2008
23. Januar 2008
Weiter unten heisst es: «Immer wieder wird darauf hingewiesen, dass die vorgesehene Pauschale von durchschnittlich 6000 Franken (15000 für «alte» Fälle) die Kosten nicht decken werde. Der Kanton Zürich hat für 2008 einen zusätzlichen Aufwand von 12 Millionen Franken budgetiert. Demnach wird (bei Sozialhilfekosten von rund 50 Franken pro Tag) damit gerechnet, dass viele Weggewiesene auch unter dem neuen Regime noch lange im Lande bleiben».
Seite, 53 «Zürichs Sozialinspektoren ermitteln mit hoher Erfolgsquote» mit der Unterzeile: «Behörde zieht positive Zwischenbilanz nach dem ersten Halbjahr - Instrument mit starker Akzeptanz»
«Bei einer Frau ausländischer Herkunft, die in der Stadt Zürich seit vier Jahren Sozialhilfe bezieht, bestand ein Verdacht auf nichtdeklarierte Nebeneinkünfte: Über Dritte war den zuständigen Sozialarbeitern zugetragen worden, dass sich die geschiedene Frau gelegentlich prostituiere. Sie bestritt den Vorwurf, und vor einigen Monaten wurde ein Sozialinspektor auf den Fall angesetzt. Die Observation, die sich über vier Monate erstreckte, deckten schliesslich einen gravierenden Betrugsfall auf: Aufgrund einer beobachteten Abreise der Bezügerin in ihr Heimatland wurde eine dortige Ermittlungsfirma einbezogen. Es ergab sich, dass die 35-jährige Nebenverdienste und unter einem Decknamen eine Wohnung im Ausland hatte, die sie untervermitetete. Die Sozialhilfe stellte die Zahlungen ein. Ein Strafantrag und eine Rüclforderung der schon ausbezahlten Leistungen sind pendent, da die Ermittlungen erst seit wenigen Tagen abgeschlossen sind».
Mag sein, dass der vorliegende Fall für die Berichterstatter erregend ist. Da macht eine Frau aus einem fremden Land – der Phantasie sind für einmal keine Grenzen gesetzt – hier in der Schweiz offenbar die Beine breit – was seit neuestem nicht mehr verboten ist – und kassiert Sozialhilfe, ohne diesen durch Sexarbeit erworbenen Nebenerwerb zu deklarieren, derweil sie in diesem fremden Land über eine Zweitwohnung verfügt, die sie vermietet hat. Eine stossende Geschichte aus dem Umfeld des Stossverkehrs.
Was haben wir durch diese Geschichte erfahren? Eine Fremde nutzt das schweizerische Sozialsystem aus. Hat uns die SVP nicht genau das schon immer gesagt?
Sehen wir uns nun nicht bestätigt?
850000 Franken, man muss sich das mal vorstellen und die Zahl auf der Zunge vergehen lassen, so viel Geld wurde ertrogen von 21 Fällen. In acht von 29 Fälle konnten die Inspektoren keinerlei Unrechtmässigkeiten nachweisen. Bei allen 29 Fällen, in denen ermittelt wurde, kommt man auf eine Deliktsumme von Fr. 2442.53 pro Monat, was unter dem Mindesteinkommen liegt. Das so zu rechnen wäre allerdgins unfair, weil hier ja die Unschuldigen mit einberechnet worden sind. Rechnen wir also fair: 21 Schuldige und 850000 Fr. Schadenssumme, das macht pro Kopf also Fr. 40476.19 Fr, monatlich sind das doch Fr. 3373.01. Damit liegen wir doch etwa 300 Franken über dem geforderten Mindesteinkommen, immerhin.
Da verblassen doch die 20 Milliarden Schweizer Franken, welche die Pensionskassen im letzten Immobiliencrash in den USA in den Sand gesetzt haben, angesichts solcher Unverfrorenheit. Zudem ist das eine ungesetzlich und das andere reines Spekulantenpech, kann eben mal vorkommen in der freien Marktwirtschaft.
Noch gut 100 Fälle sind pendent. Die Misserfolgsquote der Ermittler beträgt 27%. Also jeder vierte Fall, der in die Untersuchung einbezogen worden ist, war unbegründet. Geht man davon aus, dass die Sozialspitzel nur tätig werden, wenn ein offenbar begründeter Verdacht vorliegt, so ist davon auszugehen, dass die Sozialbehörden in ihren Verdächtigungen doch wohl auf ein gerüttelt Mass an sozialem Vorurteil abgestellt haben dürften.
Aber mach wir doch mal die Hochrechnung: wir hätten dann 75 mal 40476.19, das macht nach Adam Riese dann doch schon die erkleckliche Summe vom 3 Millionen, 35714 Franken und 29 Rappen. Allerhand, was uns die mehrheitlich ausländischen Leute da bescheren.
Betrachtet man die Statistik der Fälle, dann geht es 65 mal um nicht deklarierte Einkommen, bzw. 71 um nicht deklarierte Nebeneinkünfte (Mehrfachnennungen sind hier ja möglich). 24 mal wurden möglicherweise falsche Angaben zur Personenzahl gemacht und 14 Mal wurden wegen verheimlichten Fahrzeugbesitzes recherchiert.
Wir alle kennen die Geschichte von den ausländischen Sozialhilfebezügern, mit ihren Vorlieben für bayrische Qulitätsprodukte, manchmal sind es auch schwäbische, blauweiss oder gesternt. Aber die Abgründe moralischer Verwerflichkeit sind selbstverständlich noch nicht erreicht. In 32 Fällen vermuten die Ermittler zusätzlich, dass falsche Angaben zum Wohnsitz, zu Landesabwesenheit – auch hier erinnern wir uns an die Fällen, wo IV-Rentner mit Rückenschäden im Süden Europas mercedesfahrend Zementsächke buckelnd unsere Sozialversicherungsgelder verprassten, und diese hier, sind noch nicht mal behindert.
Und nun kommt der Hammer: Scheinehen, ja genau, auch das gibt es. Das scheint die andere Art sein, die Beine breit zu machen, Geld zu verdienen und dann erst noch Sozialhilfe zu beziehen. Ja in fast der Hälfte der Fälle schöpften die SozialarbeiterInnen selbst Verdacht und zeigten ihre KlientInnen an, im Rest der Fälle kamen die hilfreichen Hinweise von anderen Ämtern und aus Kreisen der wachsamen Bevölkerung, die sich doch so verhält, wie vor weiland vierzig Jahren im so genannten Zivilverteidigungsbüchlein empfohlen und bei Verdacht die Behörden einschaltet.
Wachsam zu sein, das ist wichtig.
Im Kommentar bemüht sich die NZZ die 850000 Franken in die richtige Richtung zu interpretieren und verweist auf das Jahr 2006, als es die Sozialdetektive noch nicht gab, wo aber im Rahmen von 380 Missbrauchsfällen, die Deliktsumme erkleckliche 4,1 Millionen Frank betragen hat, das sind 10789 Franken und 47 Rappen pro Kopf und Jahr, also 899. 13 Rappen (aufgerundet) pro Monat. Der Kommentar hält fest: «Wie viel davon bei den meist langfristig wenig zahlungskräftigen Fürsorgeempfängern tatsächlich eingeholt werden konnte, ist beim Sozialdeprtement nicht zu erfahren». Das ist vermutlich auch besser so. Denn was würde sonst zum Vorschein kommen?
Armut, Armut, Armut, Armut, Armut, noch viele Male Armut und, das ist wahr und soll hier auch nicht verschwiegen werden: Kriminalität, also die Anwendung nicht erlaubter Mittel zur Erzielung von Einkommen.
Was bedeutet das aber im Zusammenhang mit den politischen Diskurs?
Die Stadt Zürich hat nachgewiesen, dass die Ermittler sich «lohnen», gewiss, da wird da und dort noch einiges zu verbessern sein. Dass nun jede vierte verdächtigte Person unschuldig ist, legt es keinesfalls nahe, weniger misstrauisch zu sein, sind doch in drei Vierteln der Fälle die Fahnder auch fündig geworden.
Da schweizerische Sozialsystem befindet sich im Übergang von Welfare – einer prekären Konzeption von Wohlfahrtsstaat – zu Workfare, einer neoliberalen Konstruktion der Entsolidarisierung, wo nur gilt: do ut des - ich gebe, damit Du gibst, streng und christlich gemäss dem Apostel Paulus im 2. Brief an die Thessalochier: Wer nicht arbeiten will, sol auch nicht essen.
Das entscheidende Buch zu dieser Transformation der Sozialversicherung als eines Siegs der herrschenden gegen die unterdrückte Klasse im Klassenkampf stammt aus der Feder von Kurt Wyss (2007).
Analytisch ist in dieser Publikation alles Wesentliche gesagt.
Was das gestrige Spektakel anbelangt, dass die Sozialvorsteherin, gewissermassen als Vorstehhund des Kapitals, vor der Presse geboten hat, wird man gespannt auf Reaktionen von politischer Seit sein dürfen.
In der Beilage «Forschung und Technik» , S. B1 wird geschlagzeilt: «Tour de France im Klassenzimmer?» Es geht selbstverständlich nicht um Sport, sondern um Betrug, wie aus der Unterzeile hervorgeht: «Hirn-Doping als Herausforderung für die Neuroethik». Immer wenn es um Schweinereien – ich entschuldige mich bei den Säuen für die Verwendung ihres unbescholtenen Namens als Schimpfwort – geht, wird die Ethik bemüht, dieses Mal halt die «Neuroethik». Um was geht es denn überhaupt? Na ja, um «mother little helpers». In den USA versuchen offenbar ungefähr drei von vier Studierenden, ihre Leistungen mit chemischen Mitteln aufzubessern. «Das stastistische Profil des typischen Dopingsünders sieht dabei folgendermassen aus: männlich, weisse Hautfarbe, Mitglied einer Studentenverbindung - und vergleichsweise tiefer Notendurchschnitt». Nun viel Neues erfährt man hier nicht. Studentenverbindungsmitglieder standen schon immer im Ruf, erstens nicht die schlausten zu sein und zweitens einen gewissen Drogenabusus nicht abgeneigt zu sein und eher nach der Devise FFS - Fressen, Ficken, Saufen – zu leben, womit beileibe niemand konkreter beleidigt werden soll. Hier werden nur soziale Vorurteile kolportiert. Jedenfalls haben die ForscherInnen herausgefunden, dass im Herkunftsland der WASP (white anglosaxion protestants), dem Nordosten der Vereinigten Staaten von Amerika diese Praxis des Gehirn-Dopings sich einer gewissen Beliebtheit erfreut. Was selbstverständlich die Schuldirektionen weniger erfreut. Medizinstudierenden greifen dabei offenbar nicht selten zum Muntermacher Ritalin, der hierzulande den Zappelphilippen von den ansässigen Kinderärzten recht gern verschrieben wird, und oft auch von den gestressten Muttis quasi stellvertretend für ihre Zapller auch gerne genommen wird. Es handelt sich einfach um eine Amphetamin, also das, woran an der Tour de France vor Jahren Tom Simpson am Mont Ventoux – oder war es ein anderer Hügel? – gestorben ist und das auch in einer anderen Variante als Ecstasy sich in der Partyszene gern genommen wird. Britany Spears könnte uns davon ein Lied singen, falls sie singen könnte. Nun gibt es bei allen Drogen – leider, ist man nach der Lektüre von William Borroughs «Junkie» geneigt zu sagen auch Probleme mit Nebenwirkungen. Bouroughs hat offenbar bei einem missglückten Tellenschuss seine Frau erschossen. Er traf halt den Kopf der – das soll hier fairerweise auch mal gesagt sein – grösser gewesen ist als der Apfel. Vielleicht hat sie halt auch geschwankt oder er gezittert, so genau weiss man das halt nie und er wusste hinter her wohl auch nicht mehr so genau, was sie denn alles intus hatten, aber das nur nebenbei – das sind halt eben die Wirkungen der Nebenwirkungen. Nun gibt es da inzwischen diesen verführerischen Stoff Modasomil. Man fühlt sich hellwach und hochmotiviert, den ganzen Tag hindurch, ohne zu Zittern wie bei übermässigen Kaffeekonsum – man denke hier nur an die Leiden von Jean Paul Marat beim Abfassen seiner Schrift «Die Ketten der Sklaverei» (1774), als er Unmengen von Kaffee zu sich nahm. Aber auch hier kommen die schlechten Nachrichten wieder von den Nagern. Gibt man den Laborratten dieses Zauberding, so führt das zu «nachhaltigen molekularen Mofifikationen im so genannten Belohungssystem des Gehirns» – auch eine Art einen Dachschaden zu beschreiben – und die Tiere legen beim Schwimmtest eine «depressive Passivität» an den Tag, hoffentlich sind sie dabei nicht alle elendiglich ersoffen. Und warnend hält die alte Tante von der Falkenstrasse fest: «Auch wenn diese Befunde nicht ohne weiteres auf den Menschen übertragbar sind, so sprechen sie doch in aller Deutlichkeit gegen einen leichtfertigen Umgang mit solchen Medikamenten».
Achtung immer wenn so eine Formulierung in der Art «sorglos», «leichtfertig» etc. im Text steht, so ist das eine Art Wegweiser, ein Hinweis darauf, dass nun gleich die Ethik kommen muss. Und so ist es selbstverständlich auch hier. Zunächst der dramatisierende Zwischentitel: «Zwang oder Leistungssteigerung» und dann geht die Post ab, so wie dereinst der vermutlich stark gedopte Peter Post bei einem seiner vielen Siege in den Sixdays von Zürich: «Abgesehen von der Frage nach der Vertretbarkeit der Nebenwirkungen (sic! /eog) ergibt sich aus dem Hirn-doping laut Farah und ihrenKollegen ein weiteres ethisches und letztlich auch rechtliches Problem: Wenn sich der Einzelne einer immer grösseren Zahl von gedopten Mitschülern, Kommilitonne oder Kollegen und Konkurrenten im beruflichen Umfeld gegenübersieht – wie lange kann er sich dann noch leisten, auf chemische Selbstaufrüstung zu verzichten?»
Geht es darum, wie Ricot de la Marnlinière – das ist der etwas windbeutlerische Franzose in der Minna von Barnhelm – sagt: «corriger la fortune?» etwa im Sinne dass Fortuna audaces iuvat, sie also den Kühnen lacht? Steht die Chancengleichheit zur Debatte – und was ist mit den Genen, höre ich von ganz hinten von der Knilchenbank rufen, was ist mit denen?
Die Geschichte ist aber schlimmer, denn:
«Bereits heute fliegen amerikanische Militärpiloten – ihre Zustimmung vorausgesetzt – manche ihrer Einsätze Modafinil-gedopt» – die irakischen Bauern werden es ihnen mit ihren brennenden Häuser sicher danken. Und auch die Forscherin stellt fest, dass sich sozial Benachteiligte die Droge nicht über längere Zeiträume leisten dürften. Wir könnte uns in diesem Fall eine Art Drogenstipendium vorstellen, dass selbstverständlich von den oben ernannten Sozialdetektiven überwacht würde, nicht dass da so ein neunmalkluger, aber Armer das Doping empfängt und dann einen Schwarzhandel damit als nicht deklarierten Nebenverdienst eröffnete.
Es gibt dann in Zukunft nicht nur invitrofertilisierte Kinder, hors-sol-Tomaten, Gentechmais, sondern auch Modafinil-freie und unfreie Universitätsabschlüsse – welcome to the brave new world!
Damit das alles nicht einfach so geschieht, steht die ethische Eingreiftruppe der Neuroethiker schon bereit:
«Neben der Regelun des Hirn-Dopings an Ausbildungsstätten haben verschiedene Neuroethiker als weitere Massnahmen vorgeschlagen, ein öffentlich zugängliches Register einurichten , das klinische Erfahrungen mit Medikamenten umfassen verzeichnen würde. Laut den Autoren sind Rückmeldungen über Nebenwirkungen nach der Markteinführung bisher nämlich nicht immer systematisch erhoben worden». Na, ja die unsichtbare Hand regelt bekanntlich ja alles und wir wissen auch, dass in der Freiheit der freien Marktwirtschaft eben gerade die Freiheit frei sein muss.
Manchmal vermag ich kaum zu glauben, was ich an einem Morgen, von Basel nach Zürich fahrend alles zur Kenntnis nehmen darf.
Warum spricht denn niemand davon, dass Wissenschaft eine Produktivkraft geworden ist, schon längst, dass ihre Trägerschaft die Hirne der ForscherInnen sind, und dass die Kapitalverwertung selbstverständlich auch vor dieser Konfektionierung nicht zurückschrecken wird?
Und dass wir rein gar nichts müssen. Widerstand ist immer berechtigt.
Literatur:
Wyss, Kurt (2007) Workfare - sozialstaatliche Repression im Dienste des globalisierten Kapitalismus. Zürich. edition 8.