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Nun kann man sich fragen, ob es denn auch schockierend ist, den aktuellen deutschen Innenminister zu zeigen. Er ist ein Rollstuhlfahrer, nachdem auf ihn ein Attentat von einer Frau, die als geistig verwirrt bezeichnet wird, mit einem Messer verübt worden ist, er ist und war auch noch anderes, wie jüngsten Berichte in der «Zeit» vom 26 April auf Seite 2 und 18 im Zusammenhang mit dem eigenartigen Fahndungsverhalten der deutschen Terroristenfander zur Zeit der RAF zeigen, aber das gehört jetzt nicht hierher. Das war noch vor 1990, also bevor Wolfgang Schäuble von einem Tag auf den anderen von einem Hardliner der CDU zu einem Rollstuhlfahrer geworden ist.

Besteht der Schock nun im Attentat auf Herrn Schäuble, ist der Schock, dass Herr Schäuble im Rollstuhl fährt, ist schockierend, dass die schweizerische Regierung mit ganz unterschiedlichen Behinderungen – alles sichtbare Körperbehinderungen versteht sich, denn das ist auch der Denkhorizont der Kräfte, die das Referendum ergriffen haben – dargestellt werden?

Offenbar spielt das alles keine Rolle, solange nur ein wenig Schock resultiert, denn Schock garantiert Aufmerksamkeit und am morgigen 1. Mai wird sicher auch die 5. IVG-Revision und das Referendum gegen sie ein Thema sein.

Interessant sind die Stellungnahmen von Menschen mit Behinderungen zu diesen Darstellungen. Sie sind nicht sonderlich schockiert, ausser etwas rechts von der politischen Mitte.

Die etablierte Politik dagegen zeigt sich schockiert. Wie wenig braucht es doch um einen Skanadal im Blätterwald herzustellen?  Allerdings handelt es sich bloss um einen Miniskandal, denn morgen ist 1. Mai, dann ist vielerorts Feiertag und am Mittwoch wird man wohl das meiste schon wieder vergessen haben, es sei denn, der Blick will wirklich eine Medienkampagne zugunsten der Revision lostreten, indem er zuerst mal auf den Schock setzt.

Denn es muss ja nach dem Schock erklärt werden, was denn so schockienrend am Schock ist; beiden Seiten werden dann zu Wort kommen und schliesslich wird es «Meinungen» verschiedener Art dazu geben und eine Öffentlichkeit in dieser Frage wird simuliert.

Wie hat Guy Debord vor fast einem halben Jahrhunder geschrieben?

«Das ganze Leben der Gesellschaften, in welchen die modernen Produktionsbedingungen herrschenm, erscheint als eine ungeheure Sammlung von Spektakeln. Alles, was unmittelbar erlebt wurde, ist in eine Vorstellung entwichen». (vgl. Debord 1996, S. 13.)  Mit diesem Satz hat er damals seine Buch «Die Gesellschaft des Spektakels» eröffnet.

Auf jeden Fall ist es gut für die gesellschaftliche Diskussion um Behinderung, wenn überhaupt darüber geredet wird und nicht immer alles sogleich wieder verschwindet.

Marc F. Suter, rollstuhlfahrender FDP-Parlamentarier, auch als Blaufahrer bekannt, dem der Fahrausweis entzogen wurde, weil er sich alkoholisiert ans Steuer gesetzt hatte – was hier insofern etwas zu tun hat, als es zeigt, wie normal so genannt behinderte Menschen sich verhalten können –, meint nüchtern, dass die Kampagne einen fahlen Beigeschmack hinterlasse, dass Behinderung als etwas Negatives daher komme, mit dem Begriff des Krüppels konnotiert werde etc., pp. Die Kampagne verhärte die Fronten und erschwere die Finanzierungslösungen für die IV.

Herr Nationalrat Levrat von der SP vergreift sich im Bild in bezeichnet die Kampagne als Elektroschock. Elektroschocks werden in milder Form von unseren Bauern verwendet, um Kühe auf ihren eingegrenzten Wiesen zu halten und von Diktaturen, um Menschen zu foltern.

Vermutlich betrachten die Kräfte die das Referendum ergriffen haben, weder die Menschen in der Schweiz als Kühe, noch wollten sie jemanden foltern.

Levrat meint aber auch, dass die Zielsetzung «Arbeit vor Rente» nur dann die Behinderten nicht zu deren Opfer mache, so lange die Arbeitgeber nicht verpflichtet seien, Behindert auch einzustellen. Das sind sie mit der geplanten Gesetztereform selbstverständlich nicht, wo kämen wir dahin, wenn wir schon wieder neue Regelungen aufstellen würden, bei der aktuellen Regelungsdichte. Das Motto des 1. Mai werden Respekt und Würde der arbeitenden Menschen sein.

Auch wenn sich manch eine(r) klammheimlicher Freude befleissigt, wenn er oder sie Bundesräte als Rollstuhlfahrer mit und ohne Arm und Bein sieht, so hat die Sache doch grossen einen Hacken: es werden nur Männer körperlich beschädigt dargestellt, die Bundesrätinnen nicht, und die SP-lerInnen im Bundesrat auch nicht.

Vergleicht man aber die Diskussionen in der politischen Landschaft, dann haben auch die Bundesrätinnen und die SP-VertreterInnen im Bundesrat rein gar nichts dafür getan, dass die IVG-Revision anständiger daher kommen konnte.

Die aktuelle CVP-Bundesrätin hat sogar als frühere Nationalrätin sich nicht entblödet, die Solidarität der obiligatorischen Krankenversicherung aufzukündigen und öffentlich kund getan, sie habe keine Lust eine höhere Prämie zu bezahlen, nur weil einer nicht gesund lebe. Wie hat ihr geistiges Vorbild doch gesagt: «was ihr euch antut, das habt ihr mir angetan» und zur Sehbehinderung hat sich die geistliche Reverenz irgendwie  so vernehmen lassen: man solle doch lieb er den Balken im eigenen Auge sehen, als den Splitter in denen des Nachbarn. Wobei wir nicht unerwähnt lassen wollen, dass ja auch Splitter im Auge lästig fallen können. Angesichts der neoliberalen Privatisierung von schlicht Allem, liegt Frau Bundesräting wohl gut eingemittet im Mainstream des laufenden Diskurses.

Aber das linke Auslassen der übrigen BundesrätInnen leistet einer politischen Täuschung Vorschub.

Die Argumentation  tut nun so, also ob die Integration von Menschen mit Behinderung eine Frage des links-rechts-Schemas der aktuellen Politik wäre.

Sie negiert dabei vollständig, dass innerhalb der kapitalistischen Produktionsweise die gesellschaftliche Produktion von Behinderung einer bestimmten Logik folgt, die grundsätzlich jede nicht stromlinienförmig konfektionierte Arbeitskraft mit dem Ausschluss bedroht.

«Behinderung», wie in diesem Fall als Eigenschaft eines Individuums ist hier immer ein Ausschlussgrund, bis an jene Grenze, wo der Ausschluss die Legitimation bestehender Verhältnisse in Frage zu stellen droht und sekundär die Ausschlussgrenze politisch-pragmatisch festgelegt werden muss. Diese grundlegende Strategie der Vereinzelung und der Privatisierung dessen, was heutzutage «Risiko» genannt wird, während es Teil eines politischen Unterdrückungsprogrammes ist, fällt ausserhalb der analytischen Reichweite des schweizerischen Gewerkschaftsbundes.

Seit rund einem Vierteljahrhundert findet in der Schweiz bei grundsätzlich steigendem Volkseinkommen eine starke Spreizung der Reichtumsverteilung statt.  Es erhalten zwar alle mehr als vor 25 oder 30 Jahren, aber das Verhältnis des reichsten 5%-Einkommensstratus zum ärmsten 5%-Einkommensstratus hat sich in dieser Zeitspanne von 1 zu 22 zu 1 zu 220 ungefähr gespreizt. Was heisst, dass die reichsten 5% der schweizerischen Beölkung rund über 200 mal mehr Einkommen verfügen als die ärmsten 5%.

Eine solche Veränderung der Reichtumsverteilung hat eine erhebliche Erhöhung der strukturellen Spannungen zur Folge, der mit unterschiedlichen Strategien begegnet wird. Auf der Ebene des Arbeitsmarktes mit einer so genannten Verschlankung der Kosten, indem so genannt wenig produktive Arbeitskräfte im Laufe der 90er Jahre durch Teile der Wirtschaft mit Hilfe der Medizin in die Invalidität abgeschoben wurde. Während gleichzeitig überall die Steuern gesenkt wurden, konnte so eine «Finanzierungslücke» bei der Invalidenversicherung «entdeckt» werden.

Die Repression wurde verstärkt, nachdem  ein beachtlicher Teil der Pensionkassenvermögen im Boom der neue Ökonomie vernichtet worden war, richtiges Geld gegen Dampf.

Man erinnert sich vielleicht auch an die in der Schweiz fast gleichzeitig geplatzten Immobilienblase, wo von vielen «faulen Krediten» gesprochen wurde, die vor allem die lokal tätigen kleinen und mittleren Banken, wo die freundschaftlichen Verflechtungen zwischen Bankmanagement und oberer Mittelschicht im ländlichen und Agglomerationsgebiet besonders gross gewesen sind. Von den ArbeitsnehmerInnen einbezahltes Kapital wurde vernichtet.

Der Bund hat seinerseits bei der Post und der Bahn überhaupt darauf verzichtet, die Pensionskassengelder einzubezahlen. Nachdem diese Bundesbetriebe auf die so genannt eigenen Beiden gesellt worden sind, hat diese Hypothek einen dauernden Grund dafür abegeben, die Löhne immer so tief wie möglich, die Versicherungsleistungen so schlecht, wie nur gerade möglich zu halten usw. Gleichzeitig wurde per Gesetz der einst für die Annahme des aktuell geltenden 3-Säulenmodells –  für das sich die Sozialdemokratie besonders stark gemacht hatte, um die Volksinitiative der kommunistischen Partei der Arbeit zum Ausbau der AHV zu einer vollen Pensionskasse zu verhindern – gesetzlich festgelegte Zinssatz von 4% für die zweite Säule aufgehoben. Die Demographie liefert nützliche Hinweise für die Anhebung des Rentenalters, zunächst für die Frauen, zur Zeit ist eine generelle Anhebung in Diskussion. Das alles sind nüchtern betrachtet, einfache Lohnkürzungen oder eine Erhöhung dessen, was man früher «Ausbeutung der Arbeitskraft» genannt hat.

Auf ideologischer Seite hat generell eine Offensive für mehr «Leistung» begonnen.

Das fängt einerseits an in den Betrieben, wo seit ungefähr 15 Jahren das Wort «mobbing» ein Thema ist, die fortwährende Entsolidarisierung und das ständige Gegeneinanderausspielen der ArbeiterInnen untereinander. Das Problem des zunehmenden Leistungsdruckes wird in dieser Art und Weise weitgehend privatisiert, wer «Probleme» hat oder solche macht wird über eine medizinalisierte Strategie in die Sozialversicherungen ausgemustert. Rationalisierung erscheint als privates Problem der von ihr betroffenen Arbeitskraft, man bewältigt das oder halt eben nicht, dann war es Pech!

Der Zunahme der Sozialversicherungsleistungen wird ideologisch entgegegnet mit der zur Steigerung der Leistungsideologie parallel verlaufenden ansteigenden Fremdenfeindlichkeit.

«Die Fremden, die nicht von hier sind, sind nicht gleich leistungsfähig, wie die Schweizer, die von hier sind, aber sie nützen «unsere» Sozialwerke aus. Eine weitere Spaltung der ArbeiterInnen, die sich an so genannten Kultur- und anderen Debatten festmachen lässt.

Wieder fehlt eine strukturelle Erklärung für das Anwachsen dieser Spanunngen und die Art und Weise wie sie kulturell kodiert werden und eine Erklärung dafür, wem welche Kodierungen nützen wird in der Öffentlichkeit nicht gegeben. Dafür wird die morallisierende Forderung aufgestellt, die «Fremden» müssten sich integrieren, gleichzeitig verwehrt man ihnen aber jede Form der institutionaliiserten Mitsprache, in Form des Stimm- und Wahlrechtes.

So lässt sich zeigen, wie eine systematische Aufsplitterung des in den dreissiger Jahren in der Schweiz geschnürten sozialstaatlichen Kompromisses, der seine Krise zu Beginn der siebziger Jahre erlebte, von statten geht, so dass die damals erreichte Stabilität heute weitgehend verschwunden ist, zugunsten relativ frei flottierender sozialen Vorurteilskonstellationen. Anders gesagt kann man feststellen, dass damit der autoritäre Charakter der schweizerischen Kultur im Gefolge des neoliberalen Diskurses in den letzten zehn Jahren stark angestiegen ist und dass die schweizerische Volkspartei es meisterhaft verstanden hat, auf dem Klavier der schwankenden Volksmeinung das rassistische Repertoire im Gewande eines helvetischen Patriotismus zu spielen.

Gleichzeitig ist es den demokratischen Kräften im Lande nicht gelungen auch nur annähernd zur 150 Jahrfeier der Revolution von 1848, jenen Patriotismus, dem die Schweiz den Konsens und mit ihm den Aufschwung verdankt hat, auch nur ansatzweise der Öffentlichkeit in Erinnerung zu rufen.

Dies alles gibt den Kontext ab, indem nun einige Bundesräte ohne Arm, Bein, im Rollstuhl und betrunken dargestellt werden. Insofern ist der Skandal, der ausgelöst wird bieder und ziemlich hilflos, so hilflos, wie die Bewegung, die hinter dem Referendum steht, analytisch hilflos ist und bildlich gesprochen mit dem Rollstuhl auch noch in jede sich bietendene Argumentative Pfütze des Gegeners blind hineinrollt, um darin stecken zu bleiben.

Es bleibt insgesamt für die Abstimmung vom 17. Juni nur darauf zu hoffen, dass die schweiezrischen Stimmberechtigten einen Teil jenes Gerechtigkeitsgefühls, das die Schweiz in vielen Spannungen immer wieder argumentativ weitergebracht hat, nicht vollständig vergessen haben und deshalb die IVG-Revision zurückweisen, weil sie eine strukturelle Veränderung gegen die Menschen mit Behinderungen bringt und die Probleme, die sich in der so genannten Invalidität zeigen in keiner Art und Weise zu lösen in der Lage ist.

Die IVG-Revision ist eine Revision von der Art, dass man am liebsten die Versicherung abschaffen würde, denn dann, wenn jeder für sich selbst schauen würde, gäbe es keine Defizite mehr.

Die invisible hand würde es dann schon richten, nach dem Motto:

jeder für sich und Gott gegen alle.

 

 

Literatur:

Debord, Guy. 1996. Die Gesellschaft des Spektakels. Translated by J.-J. Raspaud. Berlin: Tiamat.