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Die Mutter hat sich, beraten vom behandelnden Arzt ihres Sohnes dafür entschieden, die Behandlung in Deutschland durchführen zu lassen, aber es bleiben ihr nun die 24000 Fr. Schulden, die vorderhand die schweizerische Autistenhilfe übernimmt.

Währenddessen kann hier zu Lande wunderbar die blödsinnige Geschichte vom Scheininvaliden durch alle Medien geistern. Und sie wird ständig aufgewärmt, auch im Kontext der Sozialhilfe.

Darüber berichtet ein Interview mit Nobert Raschle, dem Leiter des Sozialamtes der Stadt St. Gallen und ein Rückblick auf die Berichterstattung vom 13. April, wo der Beobachter sich gegen eine Polemik, die in der Weltwoche gegen Sozialhilfeempfänger geführt wurde, zur Wehr geseetzt hatte. Zunächst hält auf Seite 16 in einem Leserbriefe, der kritisierte Weltwocheredaktor, Alex Baur fest, dass er nur die Fehler des Systems, nicht aber «die armen Schlucker» ins Visier seiner Kritik nehmen wollte, dass aber die tendenziöse Berichterstattung des Beobachters  sich einer billigen und demagogischen Masche bediene, mit welcher seit Jahren ein Teil der schweizerischen Sozialindustrie erfolgreich jede Kritik abblocke, um dann am Schluss seines Briefes festzuhalten, seiner Meinung nach sei es ein Gebot journalistischen Anstandes, seinen Leserbrief auch abzudrucken.

So muss es ja wohl sein, denn auch dem Anstandslosen gebürt der Anstand der Anderen.

Zu dieser Berichterstattung des Beobahters hatte sich nach dem Artikel auf dieser Seite rund ein Drittel der LeserInnenbriefschreiber kritisch geäussert. Ein Indiz dafür, wie weit die Stigmatisierung in der Schweiz bereits vorangeschritten ist.

Auf Seite 10 äussert sich Norbert Raschle unter der Schlagzeile «Wir brauchen keine Sozialdetektive» dazu, dass in St. Gallen rund zwei bis drei Prozent Missbrauchsfälle bei den Sozialbezügern nachzuweisen sind. Er meint: «Die heutige Gesellschaft hat sich in vielen Bereichen leider mit einer gewissen Quote an Missbrauch zu arrangieren – denken wir nur an Kleindienstähle oder undurchsichtige Börsengeschäfte». Nach Bauers Meinung braucht gute Sozialarbeit ein Vertrauensverhältnis.

Nun sind die neoliberalen PolitikerInnen ja auf den Geschmack des sowjetischen Diktators W. Uljanow, genannt Lenin, gekommen, der gesagt haben soll: «Vertrauen ist gut, Kontrolle ist besser». Warum das?

Eine Gesellschaft, die sich dem Wettbewerb verschrieben hat, hat sich ein Problem konstruiert.

Wettbewerb bedeutet, dass es einen Sieger und sonst alles Verlierer gibt.

Das zeigt uns jeden Sommer grossaufgemacht die Königin aller Velorundfahrten, die Tour de France.

Dieses Velorennen ist in den letzten Jahren immer anfroderungsreicher geworden und es wird immer schneller gefahren.

Im Durchschnitt rasen die Fahrer bald mit 40 kmh oder mehr durch Frankreich und über alle Alpen- und Pyrenäenpässe hinweg. Mit schöner Regelmässigkeit werden die Sieger und die besten dieses Rennens, dann etwas später des Doppings überführt oder sind so stark in Doppinggeschichten verwickelt, dass es schwer fällt, an eine Unschuldsvermutung noch zu gebrauchen.

Weshalb das?

Es zählt nur der Sieger, the winner takes all, also zählt auch nur, Sieger zu werden, gleich wie.

Das Problem ist nicht mehr, nicht zu betrügen, sondern sich so zu verhalten, dass dem eigenen Verhalten kein Betrug nachgewiesen werden kann.

Das ist eine feine Nuance, welche zur Leitorientierung unserer Kultur geworden ist. Hier reichen sich die Doppingsünder und die Schnäppchenjäger des «Geiz ist geil» die Hand.

Das Wirtschaftsverhalten ist so, dass nur ganz wenig auf der Seite der Sieger stehen können, dass eine stattliche Menge irgendwo in einer unscharf definierten und statusmässig prekären so genannten «Mitte» steht, es geht ihnen weder wirklich schlecht noch wirklich gut, «normal gut» eben, während ein Substrat von rund einem Viertel bis einem Fünftel der arbeitenden Bevölkerung immer hart am Rande des Existenzminimus entlangschrammt, den eigenen wirtschaftlichen Untergang oft nur knapp und mit teilweise exotischen Mitteln vermeidend, viele dieser Menschen sind irgendwann in einer Situation der Not, in welcher sie Sozialhilfe beantragen müssen.

Not im Sinne der Sozialpädagogik meint, wie einst Johann Heinrich Pestalozzi beschrieb, einen Zustand der inneren und äusseren Armut dergestalt, dass aus ihr heraus, mangels fehlender eigenen Kräfte nicht mehr herausgefunden werden kann. Vielleicht wäre es an der Zeit, wenn einige der patriotischen Politik wieder einmal, oder einfach wenigstens dieses eine Mal den Stanser Brief des grossen Pädagogen lesen würden. Der Stanser Brief ist Pestalozzis Bericht über seine Zeit als Waisenvater in dem von Kriegswirren verwüsteten Ort Stans, wohin ihn die helvetische Regierung geschickt hatte.

Das Misstrauen, dass die anderen wohl betrügen werden, ist in diesem Sinne dem Konkurrenzdenken endemisch. Es ist gleichsam des Überich der «invisible hand», das schlechte Gewissen des Siegers, das auf den anderen projiziert wird.

Gesellschaften sind immer dann als einigermassen integriert und damit auch legitimiert zu bezeichnen, wenn über das Gesamt aller gesellschaftlicher Akteure hinweg eine Ansicht besteht, dass mehr oder weniger die durch diese Akteure verfolgten Ziele mit den ihnen zur Verfügung stehenden legitimen Mitteln auch erreicht werden können. Wenn sich gesellschaftliche Strukturen rasch verändern, dann mehren sich oft die Erfahrungen, dass die legitimen Mittel nicht dafür ausreichen, die legitimen Ziele zu erlangen, die gesellschaftliche Situation wird anomisch. Die Orientierung lässt nach, das Vertrauen schwindet und ... siehe oben.