Eine pfiffige Geschichte. Ich schaue hin, lese sie. Der Blickfang der Schlagzeile hat gewirkt. Die Geschichte verläuft so, dass der Bub im Haus seiner Urgrossmutter nach seinem Weihnachtsgeschenkt gesucht hatte, dieses – einen Gameboy – auf gefunden hatte, dabei aber von seiner Mutter erwischt wurde. Diese rief die Polizei. Die Polizeit führte den Buben in Handschellen ab, nahm ihn mit auf den Polizeitposten, wo er wegen eines Bagatelldiebstahls verklagt wurde. Die Mutter fand, dies sollte eine Lektion für ihren Sohn sein. Sie liess ihren Sohn eine Weile auf der Polizeiwache, besuchte den Gottesdienst am Sonntagmorgen und holten das Kind dann ab. Die Geschichte bis hierher ist nichts mehr als ein etwas schräger Gag einer etwas seltsam sich verhaltenden Mutter.
Nun eskaliert sie aber. Weil der gleiche Bub vor wenigen Wochen, im November 2006 einen Polizisten angegriffen hat, um was es dabei gegangen ist, wird im Artikel nicht erwähnt, muss er nun damit rechnen von der Schule verwiesen zu werden. Es läuft zudem noch ein Verfahren der Jugendstrafbehörde gegen ihn.
Aber damit nicht genug. Am Ende der story wird der LeserIn mitgeteilt, dass das Kind nach Angabe der Mutter an ADS (Aufmerksamkeitsdefizitsyndrom) «leidet». Die Mutter hoffe, erzählt uns die Geschichte, dass der Junge in «ein Programm eingewiesen werde, das ihn wieder zurechtbiege».
Mir wird übel nach der Lektüre dieser Geschichte. Weshalb wird ein zwöfljähriger von der Polizei in Handschellen abgeführt?
Ich lese sie noch einige Male. Was erzählt sie uns, jenseits ihres dadaistischen Gehalts?
Sie erzählt die Geschichte eines Kindes, mit dessen Verhalten die Mutter Schwierigkeiten hat. Das Kind ist in der Schule auffällig, es ist aggressiv, es hat einen Polizisten angegriffen, es läuft ein Jugendstrafverfahren gegen den Jungen. Der Junge hat sein Weihnachtsgeschenk in der Wohnung seiner Urgrossmutter gesucht, und geöffnet, zwei Wochen vor Weihnachten. Er «leidet» am ADS (Aufmersamkeitsdefizitsyndrom). Er zählt also zu jener Gruppe von jungen Menschen, die hierzulande der grossen Gruppe der «lernbehinderten» Kinder zugeordnet wird. Es handelt sich also bei diesem Jungen um einen jener «Zappelphilippe», mit denen ihre Eltern, Geschwister, LehrerInnen und MitschülerInnen in der Regel nicht sehr gut zurechtkommen.
Die «Zappelphilippe» sind so etwas wie die Geissel aller Erziehenden. Sie bringen durch ihr Verhalten, die erziehenden Personen nicht selten an den Rand der Verzweiflung. Nichts scheint in der Lage zu sein, ihr Verhalten zu verändern. Alle Versuche scheinen in Destruktivität zu enden. Grosse Mutlosigkeit macht sich breit. Und wenn das der Fall ist, dann ist der Schritt zur offenen Gewalt gegenüber diesen Kindern nicht weit. Als letzte Hoffnung bleibt der unmittelbare Zugriff auf den Körper dieses Menschen, sei es als chemischer Eingriff durch die Abgabe eines Medikamentes, sei es durch physische Gewalt, wie im berichteten Beispiel durch den Einsatz der Polizeikräfte.
Aber auch die Medizin ist mit der Problematik gelinde gesagt herausgefordert.
Schaut man sich die Definition der Diagnose im ICD-10 (Internationals Statistical Classification of Diseases and Related health Problems / Klassifikationsschema der Welgesundheitsorganisation für alle Krankeheiten) an, so stösst man auf Verhaltensbeschreibungen, von denen einige über Monate bei der untersuchten Person beobachtet werden müssen, bevor die Diagnose gefällt wird. Die Schwierigkeit wir doffensichtlich, wenn wir einige dieser Aspekte auflisten, die zu Hause oder in Kindergarten/Schule beobachtet werden:
A. In Bezug auf Alter und Entwicklungsstand nachweisbare Abnormität von Aufmerksamkeit und Aktivität zu Hause. Gekennzeichnet durch mindestens drei dieser Aufmerksamkeitsschwierigkeiten:
1. Kurze Dauer spontaner Aktivitäten.
2. Mangelnde Ausdauer beim Spielen.
3. Überhäufiges Wechseln zwischen verschiedenen Aktivitäten.
4. Stark beeinträchtigte Ausdauer bei der Bewältigung von Aufgaben, die von Erwachsenen gestellt werden.
5. Ungewöhnlich hohe Ablenkbarkeit während schulischer Arbeiten wie Hausaufgaben oder Lesen.
6. Ständige motorische Unruhe (rennen, hüpfen, Füße wippen etc.).
7. Bemerkenswert ausgeprägte Zappeligkeit und Bewegungsunruhe während spontaner Beschäftigungen.
8. Bemerkenswert ausgeprägte Aktivität in Situationen, die relative Ruhe verlangen (wie z. B. Mahlzeiten, Reisen, Besuche, Gottesdienst).
9. Schwierigkeiten, sitzen zu bleiben, wenn es verlangt wird.
B. In Bezug auf Alter und Entwicklungsstand nachweisbare Abnormität von Aufmerksamkeit und Aktivität im Kindergarten oder in der Schule (falls zutreffend). Gekennzeichnet durch mindestens drei dieser Aufmerksamkeitsschwierigkeiten:
1. Außergewöhnlich geringe Ausdauer bei der Bewältigung von Aufgaben.
2. Außergewöhnlich hohe Ablenkbarkeit, d.h. häufiges Zuwenden zu externen Stimuli.
3. Überhäufiger Wechsel zwischen verschiedenen Aktivitäten, wenn mehrere zur Auswahl stehen.
4. Extrem kurze Dauer von spielerischen Beschäftigungen.
5. Beständige und exzessive motorische Unruhe (Rennen, Hüpfen, Füße wippen etc.) in Situationen, in denen freie Aktivität erlaubt ist.
6. Bemerkenswert ausgeprägte Zappeligkeit und motorische Unruhe in strukturierten Situationen.
7. Extrem viel Nebenaktivitäten bei der Erledigung von Aufgaben.
8. Fehlende Fähigkeit, auf dem Stuhl sitzenbleiben zu können, wenn es verlangt wird.
Diese Beschreibungen beziehen sich alle auf eine bei der beobachtenden Person unterstellte «Normalität», bzw. der ihr unterstellten Fähigkeit, eine solche zu kennen und die «nichtnormale» Differenz im Verhalten des beobachteten Kindes herzustellen. Es liesse sich nun für jedes einzelen der zu beobachtenden Kriteiren zeigen, wie willkürlich sie sind.
Das Fazit, das aus dem Verhalten der Kinder, die mit diesem Syndron ADHS bezeichnet werden, gezogen wird, ist ein einfaches: sie stören den Alltag. Und weil sie dies mit einer scheinbar nicht zu beeinflussenden Hartnäckigkeit immer wieder tun, reagieren die diese Kinder betreuenden und erziehenden Personen mit der Dauer dieses Verhaltens mit wachsender Überforderung. Es wird versucht, die Kinder zu medikamentieren, indem man ihnen etwa Amphetamin abgibt (Ritalin) oder indem man auf sie direkten körperlichen Zwang ausübt, so wie in der erzählten Geschichte.
Die Mutter ruft die Polizei, sie hofft auf den Staat und seine Gerichtsbarkeit, diese sollen irgendetwas tun, um den Jungen «zurechtzubiegen».
Etwas Krummes gerade biegen, etwas hinbiegen, wir denken oft so. Der Pädagoge Jürg Jegge hat vor wenigen Wochen ein Buch veröffentlicht, dem er den Titel «Die Krümmung der Gurke» gegeben hat (Jegge, Jürg. 2006. Die Krümmung der Gurke. Menschen - nicht stapelbar. Bern: zytglogge). Er berichtet dort von seiner zwanzigjährigen Erfahrung mit solchen und anderen Kindern und Jugendlichen, und wie es auch möglich ist, mit ihnen umzugehen.