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Hier der Artikel im Wortlaut:

»LAUSANNE – Das so genannten Zappelphilippe-Syndrom hat sich zu einem Problem der Volksgesundheit entwickelt. Fast jedes zehnte Kind ist davon betroffen.

Gemäss einer vom Bundesamt für Gesundheit finanzierten Studie zeigen 9.6 Prozent der Kinder hyperaktives Verhalten. Dabei sind Knaben doppelt so häufig betroffen wie Mädchen. Die Ergebnisse entstammen einer Umfrage, die im Jahr 2001 bei 954 Kindern zwischen  4 und 17 Jahren in Morges im Kanton Waadt durchgeführt wurde. Gemäss Oliver Halfon vom psychiatrischen Dienst der Universität Lausanne ist das hyperaktive Verhalten bei Minderjährigen am Zunehmen.

Die Autoren befragten auch 276 Ärzte im Waadtland, um herauszufinden, ob sie die «Gehorsams- Pille» Ritalin verschreiben. Die Antwort darauf lautet Nein. Die Einnahme von Ritalin beruhige das Kind und erlaube die Aufnahme von psychotherapeutischer Behandlung oder anderer Beziehungstherapien, sagte Halfon. Gleichzeitig warnte er davor, das Medikament ohne gründliche Vorabklärung einzusetzen.

Das Psychostimulans Ritalin hat Nebenwirkungen und kann abhängig machen.  Gemäss einer Untersuchung aus dem Jahre 2001 verschreiben 94 Prozent der Ärzte, die eine Hyperaktivität diagnostizieren, eine medikamentöse Behandlung. Und fast immer wählen sie dabei Ritalin«.

 

Was ist mit einer solchen Meldung anzufangen?

Es handelt sich um Wissenschaftsschrott, um eine Meldung, die so tut, als sei da irgendetwas wissenschaftlich belegt.

Was auch immer in dieser Studie untersucht worden ist, so wie ihre Ergebnisse in dieser kurzen Meldung zusammengefasst werden, lässt sich damit gar nichts sinnvolles mehr anfangen.

Zunächst einmal wird mir als Leser zwar gesagt, dass von 954 Kindern im Alter von 4 bis 17 Jahren in Morges rund 50 als hyperaktiv eingestuft worden sind.

Es wird in der Meldung nicht gesagt, ob die Kinder, ihre Eltern, Ärzte oder LehrerInnen befragt wurden. Man weiss also nicht, wer diese Aussage gemacht hat.

Dann werden die fast zehn Prozent flux auf die die Schweiz hochgerechnet.

Und daraus wird ein Problem für die Volksgesundheit gemacht.

 

Ob das die Botschaft gewesen ist, die das BAG und der für die Studie verantwortliche Forscher bei der Pressekonferenz oder in der Medienmitteilung gemeint haben, das bleibe dahingestellt. In der Gratiszeitung angekommen ist reiner Wissensmüll, geistiger Sondermüll in einem gewissen Sinne.

 

Es wurden im weiteren von 267 Ärzte im Kanton Waadt befragt, man weiss nicht, was für Ärzte, vielleicht Kinderärtze, vielleicht Geriatriespezialisten.

Das Ergebnis ist jedenfalls, dass die Ärzte offenbar nicht oft Ritalin verschreiben.

Andererseits hat man in einer anderen Untersuchung aus dem jahre 2001 herausgefunden, dass 94 % aller Ärzte die mit einem »hyperaktivem Kind« konfrontiert sind, Ritalin verschreiben.

Offenbar erzeugt die Diagnose »hyperaktiv«, was immer man sich dabei auch denken mag, wenn man sie ausspricht, so etwas wie einen konditionierten Reflex bei Ärzten, wie wenn es zur Behandlung dieser »Krankheit« – ist es denn überhaupt eine Krankheit und falls sie es nicht wäre, weshalb suchte man dann ausgerechnet den Arzt auf? – einen klaren therapeutischen Pfad gäbe.

Dieser Reaktionsmodus ist aus der Steinzeit der heilpädagogischen Tätigkeit wohlbekannt.

Er entspringt einer Vorstellung von Krankheit als einem einem kausalen Muster gehorchenden Schematismus. Solche Schematiken sind zwar inzwischen vielerorts aus der Mode gekommen, aber wie man sieht nicht überall. Was auch immer die WissenschaftlerInnen, die diese Studie durchgeführt haben, sich auch dabei immer gedacht haben mögen, in dieser Zeitung steht jedenfalls nur Schrott oder Trümmerhaufen über ihre Forschung. Um die Forschung zu verstehen müssten wir eine mühsame Wissensarchäologie betreiben.

Ausser der Information, welche die Schlagzeile liefert, dass die Zahl der hyperaktiven Kinder in der Schweiz im Steigen begriffen sei, habe ich nichts erfahren. Aber nicht einmal diese Aussage ist gewiss.

Weiter kann nicht darüber nachgedacht werden, weshalb ist Zappeln ein Gesundheitsproblem ist und nicht eines der Erziehung; ist »Zappeln« genetisch bedingt, weil es das männlich Geschlecht bevorzugt oder sind es die kulturspezifischen Auswirkungen des Patriarchats, welche die angehenden Männern zum Zappeln bringt?

In einer nomadischen Kultur, wo nicht so viel stillgehalten werden muss, zappelt es sich vielleicht auch weniger oder gleichviel, aber das Zappeln fällt nicht als unerwünschtes Verhalten auf. Auch darüber kann nicht nachgedacht werden.

Wir wissen das alles nicht und unsere Gratiszeitung vermag uns diese Geheimnisse in den zwanzig Minuten, die wir brauchen, um sie zu lesen, nicht zu enthüllen.

Aber sie benennt ein soziales Problem, das »Zappeln« als eines der Gesundheit, sogar als eines der Volksgesundheit.

Gewissermassen, wer zappelt, schadet dem Volk, bzw. dessen Gesundheit.

»Volksgesundheit« ist allerdings ein Begriff der dem Denken schadet, gewissermassen, wer ist das Volk? Wir – die alle irgendwie zappeln, um wirtschaftlich zu überleben, sind das Volk?!?

Da das Volk der Souverän ist – trotz oder gegen Europa – muss also das volksgesundheitsschädliche Zappeln in einem gewissen Sinne antischweizerisch sein.

Nun wären also die Politiker von der strammen Seite her gefordert.

Schrott und Müll des Denkens.

 

Stramm geht es auch auf Seite 8 der gleichen Zeitung zu

»20Minuten« 21, 4. 05, S. 8:

»Über 50-jährige sollen eine Prämie für die Jungen zahlen«.

So lautet die Forderung der kleinen und mittleren Krankenversicherer. Sie verlangen vermutlich eine Risikoprämie für die schlechte Zeugungsleistung der SchweizerInnen, die keine Kinder mehr machen und deshalb die Versicherungsrisiiken auf die Versicherten abschieben möchten. So können junge, einkommenschwache Familiene entlastet werden und die Solidarität zwischen den Generationen werde gefördert.

Ich bin gegen diesen dummen Vorschlag.

Das  Argument der Entlastung der jungen, einkommensschwachen Familien ist scheinheilig.

Um eine solche Familie mit 25 Franken zu entlasten, sollen die über 50-jährigen 133 Franken monatlich mehr bezahlen.

Ich protestiere, denn ich bin schon 54 und verlange die sofortige Schliessung dieser unrentablen Kassen. Ob zwar dem Liberalismus hold gesinnt, muss ich doch sagen, hoppla, so war der Wettbewerb nicht gemeint, und rufe wieder weidli nach dem Staat, der alles richten soll.

In Sinne des share-holder-values sollte man vielleicht darüber nachdenken irgendwie alle möglichen Risiken aus den Versicherungen ausschliessen und nur Menschen versichern, die nie krank werden, dann wäre das Ganze endlich wieder ein profitables Geschäft und man wäre die leidigen Diskussionen um die Solidarität – hinter deren Anrufung ja stramme Politiker meist nicht viel mehr vermuten als gut getarntes soziales Schmarotzertum – endlich loszuwerden.

 

Interessant an diesen beiden dämlichen – pardon herrlichen, also dümmlichen – Diskursen ist, dass die sozialen Probleme über solche Argumentationsketten individualisiert werden und ebenfalls die Lösungen nur noch als individualisierte wahrgenommen werden können.

Das solches offenbar wieder relativ ernsthaft gedacht und gesagt werden kann, das sagt allerdings auch etwas aus über den Zustand der Hegemonie des herrschenden Diskurses und des Kräfteverhältnisses zwischen arm und reich in der Schweiz.

Im Falle der Versicherungen ist es einfach so, dass eine bestimmte politische Entscheidung zu diesem System geführt hat, das heute in der Schweiz realisiert wird.

Dieses System hat postive und negative Effekte.

Was aber positiv und was negativ ist, hängt vom Standpunkt der Interessen ab. In dem Moment, wo Versicherung primär ein Geschäft im Rahmen der Finanzgeschäfte ist, sind Versicherungen zweifellos nur Mittel um Kapital einzusetzen.

Deshalb kann auch aus dieser Perspektive das Konzept der Solidarität, auf dem Volksversicherungen bisher aufgebaut gewesen sind, ein wenig relativiert werden.

Das durch politische Entscheide kreierte Problem wird als demographisches getarnt und an die Solidarität der Generationen appelliert.

Ganz ähnlich wurde im Zappelphilippe-Artikel mit der Vollksgesundheit argumentiert.

Es ist nötig, diese Art des »Argumentierens«, das in den beiden »herrlichen« Artikeln aufscheint als Teil eines Herrschaftsdiskurses zu lesen, der bestimmten Interessen dient. Auf diese Weise werden subsystemisch kreierte Probleme zu solchen der Gesellschaft gemacht. Sind sie einmal als solche konstruiert, kann unter der Prämisse von Gleichheitspostulaten und Antidiskriminierung ein neuen politische Spiel beginnen. Das Lobbying für Versicherer und solches für TherapeutInnen, hat offenbar gut funktioniert. Und keiner weiss mehr, wie es so gekommen ist, wie keiner es wollte, dass es kommt – ausser einigen vielleicht.