Auf Seite 4 steht dann die Schlagzeile «Bundesrat CEO verteilt Noten». Der ehemalige Unternehmer und ehemalige Freund des südafrikanischen Apratheidregimes, jetzt aktueller Justizminister mit Meinungen zur Basler Bildungspolitik und einer Frau, die sehr wohl weiss, wie die Schweiz organisiert sein sollte, nämlich mit Mehrheit und Oppositionssystem – blöd irgendwie nur, dass es diese Mehrheiten so in der Geschichte des Landes bisher nicht gegeben hat, aber ohne Zweifel wird daran gearbeitet, solche Zustände herzustellen – also Bundesrat Christoph Blocher zieht Bilanz.
Die Journalistin Kathrin Holenstein schreibt:
«Entkrampfter diskutieren. Aber, fügt Ex-Unternehmer Blocher bei, dank ihm könne man heute entkrampfter und offeren diskutieren. Begriffe wie «Scheininvalide» seien salonfähig geworden».
Na ja, «salonfähig».
Nun der Salon ist ja eine jener Einrichtungen des ancien régime, wo unter den Vorzeichen der absolutistischen Repression private Meinungen halböffenlich geäussert werden konnten. Berühmt ist etwa der Salon der Rahel Varhagens in Berlin gewesen, wo sich die aufgeklärten Geister des 18. Jahrhundertes getroffen haben.
Wir reden heute davon, dass ein Term «salonfähig» geworden ist, wenn der Begriff öffentlich verwendet werden kann, ohne besonderen Anstoss zu erregen.
In der NZZ (Nr. 298) vom 21. 12. 2004 lautet die Schlagzeile:
« Botschaft aus der «geschützten Werkstatt». Bilanzmedienkonferenz von Bundesrat Blocher».
Das entsprechende Zitat aus dem Text lautet:
« Weniger gut fällt das Urteil über die Verwaltung aus, die seine früheren Vorurteile vollumfänglich bestätigt hat. Sie sei überdotiert und zu realitätsfremd, und es mangle sowohl an Kostenbewusstsein wie an Führungsqualifikationen. Er berglich die Bundesverwaltung mit einer geschützten Werkstatt, der er indirekt auch noch die Bundeshausjournalisten angliederte, da sich Verwaltung und Medien den ganzen Tag «in Hausschuhen» treffen könten».
Die Metapher ist griffig, wer ärgert sich nicht über die Sesselfurzer in den Pantoffeln, die «unsere» Steuergelder verprassen?
Sie ist im Kern kreuzfalsch, denn überall, wo man konkret hinschaut, sieht man eine sehr effektive Verwaltung am Werk.
Der Vergleich mit der geschützten Werkstatt ist aufschlussreich, nicht zuletzt in seiner Umkehrung.
Fragt man sich, wer arbeitet denn in einer geschützten Werkstatt, dann ist die Antwort, jemand der auf dem «freien» Arbeitsmarkt nicht bestehen könnte.
Vor was «schützt» denn eine «geschützte» Werkstatt?
Und heisst denn «freier Arbeitsmarkt», dass die Arbeitnehmer dort nicht geschützt sind, und vor was hätten sie sich zu schützen allenfalls?
Die Metapher suggeriert, dass in der Bundesverwaltung viele Menschen anzutreffen sind, die auf dem freien Arbeitsmarkt keine Anstellungschancen hätten, die Bundesverwaltung, Bundesrat Blocher nennt vor allem die zentralen Dienste,Personal, Informatik und Information..
Interessant ist die Ikonographie der Bilder, die den Berichten zur Pressekonferenz beigesellt sind. Sie zeigen Bundserat Blocher in jeweils grosser Ein samkeit, wie die Abbildung in Le Temps und in der NZZZ zeigen:
Das Bild in Le Temps ironisiert. Das Profil des Bundesrats, der vom Zusachauer wegspricht, mit seinen gewohnte markigen Gesten ins Leere hinaus zu sprechen scheint.
Auch das Bild in deer NZZ zeigt den Bundesrat gestikulierend aber en face. Beeindruckende Transparente hinter ihm an der Wand, welche die Erfolge seines Wirkens zeigen.
Das ist zweifellos eines der Verdienste des Bundesrat Blochers, dass es ihm, seinen Zuträgern und Freunden, gelungen ist, den Begriff «Scheininvalider» so in die Diskussion einzuführen, dass jeder, der sich heute zur Frage der Behinderung noch äussert, unter einem Rechtfertigungsdruck steht.
Dieser Diskurs hat bereits Folgen gezeigt.
In der NZZ (Nr. 297) vom 20. Dezember wird unter der Schlagzeile «Der «normale» Schüler wird zur Ausnahme. Die Zahl von Sondermassnahmen in der Primarschule steigt markant an» darüber berichtet, dass die «Stütz- und Fördermassnahmen» seit 1996 um 60% zugenommen hätten.
Im Jahre 2003 hatten 26000 SchülerInnen solche Stütz- und Fördermassnahmen erhalten. Rechnet man genau und subtrahiert die Doppelmassnahmen, dass gewisse SchülerInnen gleich im Doppelpack gestützt und gefördert werden, dann kommt die Bildungsdirektion zum Ergebnis, dass jede vierte SchülerIn eine solche Massnahme erhält.
Interssant ist, dass in diesem Zusammenhnag niemand davon spricht, wieviele der Schulschwierigkeiten, die zur Anwendung solcher Massnahmen führen, direkt durch die Schule als Institution induziert sind.
Jedenfalls hat der Kanton beschlossen, den Zugang zu diesen Massnahmen zu limitieren, der Staatsbeitrag an die Gemeinden wird limitiert.
«Jede Gemeinde erhält nur noch für 12 Prozent der Kinder einen Staatsbeitrag. Man wolle damit die Gemeinden dazu anhalten, die Notwendigkeit sonderpädagogischer Massnahmen sorgfältiger zu prüfen, sagt Zwicker. Eine Wirkung hat auch der Abbau von Lehrerstellen ab diesem Sommer. Die Gemeinden haben im Bereich der Sonderklassen und der ISF bisher mehr Lehrerstellen abgebaut als bei den Regelklassen. Hoffnungen setzen die Fachleute auch auf das neue Volksschulgesetz, das den Schwerpunkt bei der integrativen Förderung ansetzt. - Und schliesslich hat der Kanton noch ein Projekt: Er will abklären, was die Sondermassnahmen überhaupt bewirken».
Die Hoffnung stirbt zuletzt, auch die auf den schlanken Staat.
Zum geplanten Projekt lassen sich die Ergebnisse bereits jetzt in groben Umrissen feststellen.
Es wird bei dieser Untersuchung herauskommen, dass es relativ schwierig ist, einen direkten Einfluss der Sondermassnahmen auf die SchülerInnen nachzuweisen. Es wird eine Gruppe von SchülerInnen geben, bei denen die Sondermassnahmen wirken, eine Gruppe von SchülerInnen bei denen es nicht so klar ist und schliessliche eine, bei der sie nicht wirken.
Gleichzeitig wird man feststellen, dass es nicht so einfach ist, dies SchülerInnengruppen zu unterscheiden. Man wird weiter festhalten, dass die Sondermassnahmen als Sammelbegriff nicht sehr viel hergeben, weil sie eine Anhäufng ganz verschiedener Konstrukte und Praktiken sind.
Man wird also einzelne dieser Konstrukte evaluieren. Dann wird man merken, dass die sprachliche Förderung von nicht deutschsprechenden Kindern im Kanton Zürich deren Anpassungskapazitäten verbesert. Man wird herausfinden, dass Legasthenie- und Logopädie zwar irgendwie wirken, aber nicht so eindeutig, wie man das meint.
Kurz das Ergebnis der Untersuchung wird so sein, dass der Politik ein breiter Spielreaum bleibt und man wird alle gescheiterten Erwartungen auf den integrativen Unterricht aufpacken, von dem keiner so genau weiss, was das den wirklich ist. Deshalb wird man auch daneben die Sonderschulen und die Internate weiter betreiben.
Insgesamt werden die Kosten für das Bildungswesen aber wohl weiter steigen. Man wird schliesslich etwas ratlos vor allen diesen Fragen stehen.
Die Ratlosigkeit lässt sich gut erklären.
Das Bildungssystem ist seit jeher janusköpfig. So wahr es ist, dass hier in die Zukunft des Humankapitals investiert wird, so wahr ist es auch, dass es dem Bildungssysten bisher obliegen hat, die Ungerechtigkeit der Vermögensverteilung in der Gesellschaft durch individualisierte Strategien des Erwerbs von Bildungsstatus zu rechtfertigen.
Gleichzeitig soll die Schule gleiche Chance für alle bieten. Nimmt sie die beiden Aufträge ernst und man hat allen Grund anzunehmen, dass die Volksschule im Kanton Zürich ihre Aufträge ernsthaft und gewissenhaft verfolgt, dann wächst die Nachfrage nach Stütz- und Fördermassnahmen.
Mit und ohne Diagnostik, mit und ohne Pisa, mit und ohne Vorstellungen und Ideen zu einem schlanken Staat.
Hirnwissenschaft - neuro-science, das ist zur Zeit in aller Munde. Sie liefert das neue Paradigma. Nun wird deutlich, dass es mit dem freien Willen der Menschen nicht so weit her ist. Soll man nun sagen, das hätte doch vor hundert Jahren Freud schon gewusst, wohl lieber nicht. Man spricht lieber vom «Unterbewusstsein» als vom «Unbewussten». Als ob das «Unbewusste» unterhalb des Bewusstseins lokalisierbar wäre.
Ein neues biologistisches «Beispiel» entsteht und entwickelt seine eigenen Formen als Wissenschaft.
Alles wird auf den bereits fahrenden Zug aufspringen, auch das, was Sonderpädagogik sich nennt. Das Problem wie immer wird das Sozietale sein, die Unabdingbarkeit des Umstandes, dass es Menschen nur als Plural geben kann.
Man muss also immer schon von Hirnen sprechen, bevor man vom Hirn spricht, sonst läuft man Gefahr etwas abzuschneiden.
Aber es war schon immer ein Problem der Biologie, dass sie sich gewissermassen mit politischer Ideologie kontaminierte, das zeigt der malthusianische Einfluss bei Darwin, aber auch das spieltheoretisch motivierte, neoliberale Gerede von den «egoistischen» Genen.
Was Gene auch immer sein mögen, sicher können sie nicht «egoistisch» sein. Das macht aber nichts. Man wird also jetzt die Neurowissenschaft, allenfalls die Neurowissenschaften, erfinden und dann wird man in einigen Jahren, die «Sozio-Neurowissenschaft» entdecken.
So denkt es sich schön im Kreis, ohne dass man sich ernsthafte Gedanken darüber machen muss, wozu dieser Kreis denn nützlich sei, es sei denn, um forschen zu können.
Der Hintergrund aller dieser Forschungen – ob so rum oder andersrum – ist immer die Frage nach dem Gebrauch des so produzierten Wissens. Und gewiss wird es bald eine interkulturelle Gehirnforschung geben müssen, diese wird herausfinden, dass es tatsächlich Unterschiede in den Gehirnen von Schwarzen und Weisen gibt, aber auch Unterschiede in ihren Kulturen, das lässt sich insbesondere am Beispiel schwarzer Menschen in den USA zeigen, worauf dann wieder gezeigt werden kann, dass Weiss und Schwarz in den USA durchaus in verschiedenen Kulturen leben, worauf man sagen kann, dass der Kulturbegriff nicht mehr brauchbar ist und man wird schliesslich auch herausfinden, dass das Gehirn eigentlich nicht ein richtig vom Rest des Organismus abzutrennendes System ist, dass es Interaktionen gibt mit dem Rückenmark aber irgendwie auch seltsame noch nicht richtig verstanden mit der Neurologie des Darmes usw.
Die Diskussion lässt sich in solcher Dichotomie nicht lösen. Man kann sich auch fragen, ob der einzelne Mensch überhaupt eine hilfreiche Untersuchungseinheit darstellt. Vielleicht käme man rascher weiter, wenn man einzelne Personen als emergente Eigenschaften menschlicher Systemzusammenhänge verstehen würde, Knoten in Netzen differenzieller Ereignisdichten.
Im Spiegel Nr. 52 vom 20. 12. 2004, S. 116 ist ein Gespräch zwischen dem Hirnforscher Gerhard Roth und dem Moraltheologen Eberhard Schockenhoff abgedruckt.
Gerhard Roth führt als Beispiel an, dass der Wille jemanden zu heiraten keineswegs ein freier Wille ist:
«Da wären zunächst die Gene, die das Temprament eines Menschen weitgehend festlegen; dann prägen frühkindlicher Einflüsse sptere Entscheidungsmsuter und schliesslich die Erfahrungen aller Lebensjahre. In einer Hochzeitszeremonie spiegelt sich kein Wille, der bedingungslos frei wäre».
Die beiden reden aneinander vorbei:
Roth: «Im Gehrin lassen sich Erregungszustände nachweisen, die eine Handlung ankündigen - bevor der Mensch sich dessen bewusst ist, dass er überhaupt handeln will. Das sind empirische Befunde, die in Hunderten Laboren bestätigt werden. Daran kommen Sie nicht vorbei.
Schockenhoff: Sie fragen aber nicht nach den Gründen, die den Menschen bewegen. Und da machen Sie einen Kategorienfehler. Erinnern wir uns an ein berühmtes Beispiel aus der Philosophie, von dem Plato berichtet: Sein Lehrer Sokrates sitzt im Gefängnis und hätte die Chance zu fliehen. Dennoch entscheidet er sich dafür, hinter Gittern zu bleiben. Man könnte nach den Ursachen fragen und antworten: Er bleibt, weil sich seine Knochen und Sehnen nicht bewegen. In seinem Gehirn war auch keinerlei Erregungszustand zu beobachten. So liesse sich sein Handeln als physikalisches Geschehen beschreiben. Ein anderer Ansatz wäre, dass Sokrates sich als Philosoph der Wahrheit verpflichtet fühlt. Er möchte seinem Gewissen folgen und die Gesetze des Staates achten. Das ist eine Antwort, die nach Gründen für sein Handeln fragt.
Roth: Das Sokrates-Beispiel gefällt mir gut. Sie sagen, seine Weigerung zu fliehen, entspringe allein seiner freien Etnscheidung. Ich aber sage, er wäre geflohen, wenn er andere Gene gehabt und seine Mutter ihn anders erzogen hätte. Mit den Gründen verhält es leider nicht so, wie Plato uns lehren wollte. In entsprechenden Versuchen können wir sehen, dass Bewusstsein und Psyche – also Geist – unter bestimmten physikalischen Bedingungen im Gehirn gebildet werden. Das Gehirn konstruiert, so drücken w ir Neurobiologen es aus, Ich-Zustände. Der Mensch empfindet dies in diesem Moment als Bewusstseinszustand» (S. 117/118).
Worüber haben sich die beiden gelehrten Männer unterhalten?
Sie haben sich darüber unterhalten, dass Sokrates nicht Sokrates gewesen wäre, wenn er nicht Sokrates gewsen wäre.
Das wäre dann der Fall gewesen, wenn er die gleichen Gene aber eine andere Mutter, oder die gleiche Mutter oder andere Gene gehabt hätte.
Wie sagt man doch: wenn meine Grossmutter Räder hätte, dann wäre sie mein Leiterwagen.
Da die beiden aber gescheit sind, dürfen sie für solchen Nicht-Sinn – wohlgemerkt, ich würde mir nie anmassen, sie in ihrem Gespräch des Unsinns zu zeihen – also sage ich Nicht-Sinn, weil ich den Sinn dieser Gesprächspassage nicht nachvollziehen kann Zeitungsplatz verbrauchen,
Gelernt haben wir also, dass Sokrates nur insofern Sokrates ist als er er ist und dass wenn er ein anderer gewesen wäre, uns Plato eine andere Geschichte erzählt hätte.
Etwas später im Gespräch:
Schockenhoff spricht von der christlichen Nächstenliebe
«Roth: Natürlich kann man das so sehen – doch religiöse Aussagen sind nicht zu beweisen und stehen jenseits der Wissenschaft.
Schockenhoff: Aber wie wollen Sie ohne freien Willen das Phänomen der Liebe erklären? oder Vergebung?»
Eine letzte Frage sei dem Dilletanten erlaubt: woran glaubt die Wissenschaft? An die Vernunft? An ihre Beweise? An ihre Axiome? Wären das andere Wörter für Götter? Was ist der Unterschied zwischen dem Nicht-Erklärbaren und dem Nicht-Erklärbaren? Ich würde sagen, das sei das Nicht-Erklärbare. Wir wären dann wieder dort angelangt, dass Wirklichkeiten Wahrheitskerne benötigen, während wir Wirklichkeiten beschreiben und in ihnen Phänomene erklären können, bleiben uns Wahrheiten nur als zu glaubende, ob wir es glauben wollen oder nicht. Dem Skeptiker wird einfach der Zweifel zum Gott.