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Ich meine die gute Absicht von Frau Hollenweger zu verstehen. Sie möchte mit diesem Aufsatz der Forschung über Behinderung einen sozialen Raum öffnen, sie möchte ideologisierenden Grabenkämpfen den Raum entziehen; sie möchte nicht zuletzt Menschen mit einer Behinderung — was «Behinderung» genau ist weiss auch sie nicht mehr — konkret helfen. Dazu setzt sie sich in einer von mir als eher polemisch empfundenen Volte von denjenigen gesellschaftlichen Kräften ab, die mit politischen und ideologischen Mitteln gegen die Diskriminierung von Menschen mit einer Behinderung gekämpft haben. Mit dieser Absetzungsbewegung möchte sie — endlich ist man versucht zu rufen — der wissenschaftlichen Erforschung dieses Phänomens einen Raum öffnen.

Ob die ICF, wie sie meint, die richtige Grundlage dafür ist, das ist eine Frage, über die man sich auch wieder streiten könnte. Jedenfalls gehe alle diese Auseinandersetzungen von eine Prämisse aus, die so unumstritten nicht ist, wie man vermuten könnte. Alle diese Prämissen gehen davon aus, dass das, was ein Mensch ist, klar sei.

Solche Karheit könnte sich schon bald als trügerisch erweisen, denn zur Zeit ist die Weltgesellschaft daran, ganz unabhängig davon, was jemand darüber denkt oder nicht, wieder in ein eugenisches Programm einzusteigen, das vielleicht gar nicht wirklich verlassen wurde, nach der Erfahrung des Holocaust, sondern nur moralisch kritisiert. Die moralische Kritik an Phänomenen ist zwar notwendig, aber sie ist keinesfalls fähig, dieses Phänomene zu verändern. Herrschaft hat mit Kritik, solange sie nicht zur «materiellen Gewalt» wird, immer gut gelebt.

Das zeigt sich auch an der aktuellen Diskussion in der Schweiz, ob es Eltern gestattet sein soll, «überzählige» Embryonen, die im Zusammenhang mit künstlicher Befruchtung fabriziert worden sind, der Wissenschaft für «wichtige» Forschungsvorhaben zu «schenken».

Ein Narr ist, wer glaubt, dass hier irgendetwas geschenkt werden wird. Man wird sie verkaufen können, und wer schlau ist, verkauft den eigenen Embryo günstig und lässt sich ein Recht auf die Nutzung der zukünstigen Stammzellenlinie eintragen. So liessen sich die Gewinne maximieren.

Auch wird man über das, was eine «Diagnose des genetischen Materials» genannt werden wird, oder anderem, zu einer Selektion gewisser genetischer Sequenzen gelangen und damit mittelfristig zu dem, was man «Züchtung» nennt. Man mag das für übertrieben halten und für das Schlimmste, was denkbar ist. Nur die Geschichte der Menschen zeigt, dass es Sinn macht, jeweils mit dem Schlimmsten zu rechnen, wenn man Barrieren verschiebt.

Mit Hilfe der biotechnologischen Möglichkeiten gehen die Menschen heute daran, das zu verändern und neu zu definieren, was ein Mensch ist.

Wenn die Revolution bestimmt hatte, dass alle Menschen frei geboren sind, dann stellt sich heute die Frage, was mit all dem ist, das lebt und noch nicht geboren ist.

Wenn es so etwas gibt, wie «Gesellschaft» als ein Zusammenhang aller Menschen, dann ist jedenfalls klar, dass staatliche, parastaatliche und zwischenstaatliche Institutionen nicht für diese sprechen können, sondern immer nur für jenes Mass an gesellschaftlicher Macht, das in ihnen institutionalisiert ist und durch sie repräsentiert wird.

Gesellschaft kann in diesem Sinne auch nichts «besitzen», aber Menschen, die Teile von Gesellschaft sind, sehr wohl. Menschen können in einem solchen Verständnis von Gesellschaft aus dieser auch nicht ausgeschlossen sein; aber sie können marginalisiert werden im Hinblick auf in einer bestimmten historisch-konkreten Gesellschaft wichtigen Dimensionen der Kultur.

Ausschluss aus der Gesellschaft erfolgt nur über den verfügten Tod eines Menschen, wenn wir allenfalls noch gelten lassen wollen, dass Menschen so etwas wie eines «natürlichen» Todes sterben könnten. Was man heute auch bezweifeln mag, wenn jemand etwa in einem Spital stirbt, unter Umständen, die wir als relativ «human» bezeichnen, mit genügend Morphin gegen die Schmerzen, betreut von geschultem professionellem Personal usw. Das soll nicht als ein Argument gegen die palliativen Strategien der Medizin sein. Es weist nur darauf hin, dass vieles von dem, was früher als «Schicksal» hinzunehmen war, etwa der Tod eines Menschen durch eine Infektion, uns heute als Folge des Handelns von Menschen sich präsentiert und deshalb ohne Zweifel mit der Frage verbunden werden kann, ob denn so gehandelt musste, wie gehandelt wurden.

Die Menschen sind heute daran in einem Ausmass in Grundlagen dessen einzugreifen, was das ausmacht, womit sie solche Grundlagen geschaffen haben, wie wir uns das vielleicht vor einem halben Jahrhundert noch kaum hätten vorstellen mögen. Wir können nun Spekulationen darüber anstellen, dass das, was man ein bürgerliche Individuum genannt hat, ein Konzept von Mensch von Sokrates bis Goethe usw. sich seinem Ende zuneigt.

Menschen gibt es nur als vergesellschaftete. Es gab vielleicht eine gewisse Zeitspanne, in welche die Vergesellschaftung sich als Individualität der Menschen inszenierte, als ein uneingeschränktes Ausmass an Heterogenität, um den Preis dafür, dass einige dieser Menschen als «behindert» stigmatisiert worden sind. Heute naht vielleicht eine Zeit, wo die «Gesellschaft» über die in ihre möglichen Technologien die Bandbreite des Menschlichen neu zu bestimmen sich anmasst und die Idee des QM (Qualitätsmanagements) auch auf das genetische Substrat von Menschen anzuwenden beginnt.

In einem erschreckenden Sinn erscheinen solche Aspekte alle logisch.

 

Basel: 20minuten, 15. 11. 04, S. 3 Rubrik «news» , Basler Ausgabe

«Werbetafeln: Weg von den Trottoirs

BASEL — Gemäss Entschnluss des Regierungsrats dürfen ab Januar auf den Basler Trottoirs mobile Reklameständer nur noch bedingt aufgestellt werden. Aus «stadtgestalterischer Sicht» seien diese unerwünscht. Zudem hätten der Blindenverband sowie Pro Infirmis diesen «Wildwuchs» kritisiert, wurde in einer Mitteilung begründet.

Diese regierungsrätliche Änderung der Allmendverordnung ist von Pro Innerstadt und dem Gewerbeverband sofort kritisiert worden. «Dieser Entscheide tut dem Gewerbe weh», sagt Gewerbedirektor Peter Malama».

Ein auf den ersten Blick sehr logischer Entscheid. Die Tafeln sind oft sehr hässlich und versperren nicht nur Sehbehinderten den Weg, zudem tun sie denen weh, die in sie hineinlaufen. Auf den zweiten Blick ist die Situation dann doch wieder etwas komplexer.

Die hässlichen Tafeln sind ja auch so etwas wie ein Verzweiflungsschrei des gebeutelten Gewerbes in der Basler Innerstadt. Die Geschäfte dort kämpfen schwer um ihre Umsätze, die eher stagnieren und rückläufig sind. Für viele Güter gibt es hier gar keinen Standort mehr. Die günstigen Standorte für Food and Non-Food in der Region Basel befinden sich in Frankreich und in Deutschland, für Dinge, die man im Warenhaus kauft, in Münchenstein, in Pratteln, allenfalls noch im Dreispitzquartier am Stadtrand.

Die Mieten in der Innerstadt sind sehr hoch, wegen der Zentrumslage, die offenbar hohe Gewinne verspricht.

Das ist zwiespältig.

Man könnte das Argument der Behindertenverbände nun dahingehend zuspitzen, dass man sagen könnte, sie bedrohten Arbeitsplätze und mindern damit insgesamt die Chancen, Menschen mit einer Behinderung zu beschäftigen.

Dagegen könnte man halten, das Gewerbe solle sich etwas Schlaueres einfallen lassen, die Leute in die Stadt zu locken, als hässliche Werbetafeln.

Hat man jemals schon davon gehört, dass es einem Geschäft mehr Umsatz gebracht hätten, dass es einen Menschen mit einer Behinderung beschäftigt hat?

Dennoch gehören die Tafeln weg, aber das Problem dahinter ist komplizierter.

Wie heisst es doch bei Merton/Nisbet im Zusammenhang mit sozialen Problemen: «Die Lösung des sozialen Problems der einen Gruppe neigt dazu, das soziale Problem einer anderen Gruppe zu werden».

 

Gleiche Zeitung (Basler Ausgabe: 20minuten, 15. 11. 04), S. 7, unten an der Seite findet sich ein lilaeingefärbtes Inserat:

Frau Pascal Bruderer: «Die Kantone einladen, auf Kosten von Menschen mit Behinderung zu sparen? Nicht mit mir!» NEIN zum Finanzsausgleich am 28. November. Pascal Bruderer, Nationalrätin».

Gleiche Zeitung S. 9.

«JA zum Finansausgleich am 28. November. Gerechter. Der NFA stärkt den Zusammenhalt unter den Kantonen: Lasten werden gerecht verteilt und die Unterschiede bei der Steuerbelastung verkleinert. Schweizerisches Komitee «JA zum NFA» Postfach 5835 Bern»

Das Inserat mit der Nein-Parole erscheint als persönliches Inserat von Frau Bruderer, was trotz ihres Engagements für Behinderte etwas überrascht, dass sie dafür so tief in die Tasche greift, falls sie das Inserat selbst bezahlt hat, jenes der Befürworter ist politische korrekt mit einem Absender versehen, auch wenn man dafür dann immer noch nicht weiss, wer sich hinter jenem Komitee verbirgt. Frau Bruderer stellt immerhin ihr Gesicht zur Verfügung, aber man weiss nicht wer hinter ihr steht. Transparatent sind sie beide nicht, die Kontrahenten in dieser Auseinandersetzung.

Die Kampagne der NFA-Gegner lehnt sich in vielem formal an den demagogischen Stil der SVP an.

Ich persönlich glaube nicht an solche Strategien.

Hier scheinen sie mir vielmehr Ausdruck einer Verzweiflung zu sein. Gewisse Stellen im stationären Bereich der Betreuung von Behinderten stehen tatsächlich zur Debatte, aber das hängt grundlegend nicht damit zusammen, ob die Finanzierung kantonal oder eidgenössisch erfolgt. Es ist folgerichtig, dass in einer Zeit, die ideologisch die Integration von Menschen mit einer Behinderung verlangt, auch die ambulanten Strategien der Betreuung behinderter Menschen in den Vordergrund rücken.

Zeiten, welche die Förderung von Behinderten ideologisch auf ihre Fahnen geschrieben haben, werden wieder selegierend wirken – man « muss» «gleiche Problemlagen» zusammen nehmen – und damit werden tendenziell stationäre oder teilstationäre Lösungen wieder bevorzugt werden.

Es gibt keine Lösung, welche die beiden Strategien zugunsten der einen aufheben würde. Es kann – und muss – immer nur über ihre jeweilige Balance gestritten werden.

Aber dieser Streit hat grundlgend nichts zu tun mit der Ordnung der Finanzen zwischen Bund und Kantonen.

Die Angst der Verbände der Behinderten und der Einrichtungen, die Behinderte betreuen, liegt vielmehr darin begründet, dass es bis heute nicht gelungen ist, einen breiten gesellschaftlichen Konsens zur Integration der Menschen mit einer Behinderung zu erzielen.

Wir sind noch immer da, wo gesagt wird: «Ja, es ist ein schweres Los, ein behindertes Kinde zu haben» oder «Was für ein Unglück, dass dieser Mensch durch diese Krankheit, Unfall (usw. etc.) so schwer behindert wurde».  Niemand sagt: «Was für ein Unglück, sein Sohn ist Börsenspekulant».

Die Auffassung Behinderung sei eine Eigenschaft eines individuellen Menschen ist genauso eine soziale Konstruktion wie die Auffassung Behinderung sei eine soziale Konstruktion. Aber sie hält sich hartnäckiger als andere soziale Konstruktion zu dieser Thematik.

Vielleicht muss man dieses Moment einmal klarer ausformulieren.

Wenn man sich auf die Logik des sozialen Konstruktivismus einlässt und behauptet, dass Behinderung definiert nach dem aus der Behindertenbewegung heraus entstandenen «Sozialen Modell von Behinderung» entsprechend der ICF bestimmt wird, dann tritt man einfach ein in eine Konkurrenz von Denkstilen.

Die Aufgabe der Wissenschaft wiederum ist es, zu beobachten und zu kommentieren, wer mit welchem Denkstil wozu und für wen argumentiert, mit welchen Argumenten.

Die Schwierigkeiten, die sich hier öffnen bestehen im Rassismus und dem eugenischen Denken, die implizit tief in die Begriffe eingelassen, mit denen wir unsere Welt beschreiben, als eine normale.

Wir sollten aufhören so zu tun, als könnten wir uns von der Latenz unserer europäischen Kultur durch einen simplen Akt der Reflexion befreien, der Fluch des Holocaust sitzt tief in vielen Worten.

Wer denkt in Europa bei den beiden Worten «Sonder» und «Heil» nicht an den Natinalsozialismus, weshalb wurde «Führer» durch «Leader» und «Führung» durch «Leadership» ersetzt, wohl nicht, weil Englisch nice ist, zumal das frühe.

 

Tagesanzeiger vom 15. 11. 2004, Seite 2

«Der Panzeroberst verliert die Sprache»

Der Artikel berichtet über den Präsidenten von FRAGILE SUISSE, den hirnverletzen Henri Daucourt aus dem Pruntrut im Kanton Jura.

«Insgesamt müssen etwa 100000 Personen mit einer schweren Hirnverletzung leben. Sie werden gar nicht wahrgenommen. Henri Daucourt steht auf, lächelt und zeigt auf sich: die Behinderung ist ihm auf den ersten Blick nicht anzusehen. « Ich bräuchte einen Rollstuhl, damit man sieht, dass ich ein Problem habe» steht auf einem Zettel.

Hirnverletzte sind schnell überfordert, können sich schlecht konzentrieren. Sie stottern beim Redenj, sabbern beim Essen, schleppen beim Gehen die Füsse nach. Wer ihnen begenet, hält sie oft für betrunken oder für geistig behindert.

«Die Gesellschaft kennt uns nicht», sagt Daucourt.»

«In diesem Frühjar ist Henri Daucourt in den neuen Gleichstellungsrat für Behinderte gewählt worden. «Ich bin dazu befähigt, auf die Schwierigkeiten der Hirnverletzten hinzuweisen».

Als Schulkommandant war er es gewohnt, vor die Leute hinzustehen und sie zu überzeugen.

Den Sitz im Gleichstellungsrat hat er nach der ersten Sitzung wieder aufgeben müssen.

Nach dem Tod seiner Frau in diesem Frühjahr hat er sein wieder erworbenes Sprachvermögen erneut eingebüsst. Eine mechanische Lähmung behindert ihn beim Schlucken und Reden.

Er lebt mit zwei Enkelinnen und einem Enkel zusammen, die im Jura die französische Sprache lernen. Auch mit ihnen muss er sich mir der Zettelwirtschaft verständigen.

Klagen sind von ihm keine zu hören, aber man merkt, dass ihm der Verlust der Sprache schwer zu schaffen macht.

«Ich kann meine Hauptwaffe nicht einsetzen», sagt der ehemalige Oberst.

Bei der Gründung einer neuen Fragile-Ortsgruppe im Kanton Neuenburg muss er seinen Text vorlesen lassen. Wenn es bis Ende Jahr mit der Sprache nicht bessert, will Henri Daucourt das Präsidium niederlegen. «Ich muss vor das Mikrofon treten können, wenn ich etwas bewirken will». »

 

Weiter oben im Artikel stehen die Sätze:

«Henri Daucourt, der drei Landessprachen beherrscht (und sie durch die Hirnverletzung nicht verloren hat), besorgte noch eine Zeit lang Übersetzungen für die Armee. Inzwischen bezieht er eine IV-Rente. Henri Daucourt ist kein gebrochener Mensch, hat sich nie unterkriegen lassen, wie er sagt. Er ist präsent, lacht, wiederholt beharrlich, wenn wir etwas nicht verstanden haben. Oder nimmt den Schreibblock zur Hand und notiert mit zügiger Hand: «Wissen Sie, was nicht vernichtet ist: mein Wille und Humor». »

Was soll man sagen?

Was soll ich sagen?

Meine Mutter kommt mir in den Sinn, die nicht in der glücklichen Lage ist, wenigstens noch schreiben zu können, da die MS ihr nicht nur die Möglichkeiten der sprachlichen sondern auch jene der schriftlichen Artikulation weitgehend geraubt hat.

Es bleibt nur unendliche Geduld, um sich mit ihr zu verständigen, um einen ihrer mühevollen und stets lingustisch korrekten Sätze aus ihrem Gestammel und Gemurmel und Gebrumm, das jede Fähigkeit zur Artikulation irgendwelcher Zischlaute und anderer Dinge, welche die Phonetiker so gut zu benennen wissen, verloren haben.

Sie hat ihren Mut auch nicht verloren, auch ihr Interesse an der Welt nicht, sie nimmt alles auf und sie hört mit Begeisterung Hörbücher und liest, soweit sie Bücher noch zu halten vermag. Mir fordert sie eine Geduld ab, die mich unter Druck setzt. Ich vermag es kaum, mit ihr in der Cafeteria des Pflegheims zu sitzen und mich mit ihr zu unterhalten, weil ich aufgrund der vielen Hintergrundgeräusche sie nicht verstehe. Spazieren gehen draussen geht auch nicht, weil ich wegen meines Rückenleidens nicht in der Lage bin, ihren Rollstuhl zu schieben und weil es draussen so laut ist, dass ihre Laute vom Sitzen im Rollstuhl nicht an mein Ohr dringen. Also sitzen wir halt in ihrem Zimmer, am Fenster, wenn sie nicht im Bett liegen muss, wegen ihrer Schwäche, und schauen in den Park und in den Wald und sie erzählt mir von der Vielzahl der Vogelarten, die sie beobachtet, jeden Tag, vom Spiel der kleinen Geissen im Gras unten und vom letzten Buch, das sie gelesen / gehört hat. Oder vom Besuch im Museum, vom Schwimmen, wo sie beinahe ertrank, weil sie umkippte, oder vom Sturz mit der Betreuerin in der Toilette. Sie stand unglücklicherweise auf ihre Hose und fiel. Ihrer Betreuerin gelang es, sie zu fassen und beiden fielen in die Toilette, allerdings so dass sie beide nicht mehr aufstehen konnten; «wir lagen da wie zwei gestrandete Walfische» erzählt sie und lacht über das ganze Gesicht, wenn sie lacht und spricht, dann verstehe ich sie gar nicht mehr. Wir lachen sehr viel, wenn wir zusammen sind, da wir nicht wissen, wie lange wir das noch sein können.

Aber ist das die richtige Antwort auf diesen Artikel, zu sagen, ich kenne jemandem, dem es auch schlecht oder noch schlechter geht?

Müssen Menschen mit einer Behinderung Helden sein?

Dürfen sie ganz einfach auch zerbrechen an ihrem Schicksal?

Gibt es eine Pflicht zum Heldentum?

Oder geht es hier um Helden dumm?

Die im Artikel über den Panzerobersten mit der verlorenen Sprache erzählte Geschichte ist auch eine Geschichte eines sozialen Todes, eines schrittweisen Verlierens sozialer Rollen.

Rollen sind bekanntlich Verhaltenserwartungen, die der Träger der Rolle und sein Umfeld an ihn richten. Und Menschen sind, wie Dahrendorf uns lehrte, ihre Rollen.

Und zwar im Sinne des Wortes, dass Rollen Verhaltenserwartungen sind, was erwarten «Behinderte» von sich, was wird von ihnen erwartet?

Soll ich sagen, dass ich weinte, als ich über meine Mutter schrieb, oder ist das wiederum zu exhibitionistisch, muss ich sie fragen, bevor ich über sie schreibe und das öffentlich mache, damit ich mit ihrer Zustimmung über sie etwas sage, was allerdings ich empfinde?

Soll ich über meine Wut schreiben angesichts einer verlogenen politischen Korrektheit?

Oder ist es nicht so, dass wir in Demut anerkennen sollen, dass es etwas gibt, das grösser ist als wir selbst, auch wenn wir uns in einer prometheischen Revolte ständig gegen es erheben, dass das Ergebnis dieser Erhebung, die Kultur, immer scheitert angesichts der Aufgabe mit der Gesamtheit menschlicher Heterogenität umzugehen?

Gehören solche Geschichten überhaupt zum Thema dieser Notizen. Ich bin ja angetreten, mir ein «journal de recherche» zu schreiben, das meine Arbeit begleitet.

Der Tagesanzeiger vom 15. 11. 2004 schreibt auf Seite 13 in der Rubrik «Zürich und Region»

«Sparübung mit teuren Folgekosten»

Im Zuge der Sparmassnahmen werden die Beiträge des Kantons zur Betreuung psychisch kranker Asylsuchender halbiert. Das Ethnopsychologische Zentrum Zürich als Teil der Asyl-Organisation und damit des Sozialamtes der Stadt Zürich hat auf diesem Gebiet Pionierarbeit geleistet, geforscht und publiziert.

Jetzt da es weniger Asylsuchende gibt, gibt es auch weniger Geld vom Bund für die Kantone, was bedeutet, dass das EPZ sein Haus an der Rosengartenstrasse mit 42 Plätzen schliessen muss und drei Personen, die dort arbeiten, entlassen werden.

Der Artikel, der für das EPZ Stellung nimmt, zeigt auf, dass ein Betreuungstag in einer psychiatrischen Klinik, was die Alternative zur Unterbringung im EPZ ist, wenn eine asylsuchende Person psychische Probleme macht, 597 Franken kostet, während die Unterbringung im EPZ 69.75 Fr. beträgt, da der Bund noch 30 Franken übernimmt, kostet es sogar nur 40 Franken.

Bis 2004 bezuahlte der Kanton Zürich rund eine Million Franken an das EPZ. Mit dieser Summe lassen sich 5.3 PatientInnen während eines Jahres in einer psychiatrischen Klinik unterbringen. Entscheidend ist allerdings, dass diese Kosten nicht der Sozialdirektion sondern der Gesundheitsdirektion belastet werden. Das Märchen von den sieben Schwaben kommt mir in den Sinn  …  Hannemann geh du voran, du hast die grössern Schuhe an!

Ein schwieriger Fall tatsächlich, der nun mitten in das Problem hineinführt.

Zunächst: es ist nicht sinnvoll Infrastruktur auf Halde zu halten, was meint, wenn man etwas nicht mehr braucht, dann soll man es auch auflösen.

Danach, Kompetenzen – das was Neudeutsch «capacity-buildung» gemeint ist -  gehen unwiederbringlich verloren, verlieren die Menschen im EPZ ihren Job. Das Wissen ist fort, zerstört. Im Gegensatz zu einer heute modischen Meinung bin ich nicht der Ansicht, dass Wissen sich in ihrgendeiner Art und Weise sichern liesse. Sichern lassen sich andere Dinge, Jan Assmann hat darüber geschrieben im Zusammenhang mit den kulturellen Problemen, die sich die Menschen mit der Erfindung der Schrift aufgehalst haben.

Wissen besteht immer nur in lebendigen menschlichen Zusammenhängen. Das, was wir aus einer Beobachterposition als soziale Wirklichkeit beschreiben, gleichsam als «Wissen im Tun» ist immer an die konkret handelnden Menschen geknüpft, keine zwei Menschen können das Gleiche zwei mal gleich machen, auch das ist ja schon länst bekannt, aber es passt nicht auf eine Pareto-Verteilung von Wissen, die in Organisationen, die Wissenssicherung kennen, anwenden. Dort kommt es nicht auf die Identität von Wissensbeständen in der Zeit an, sondern nur auf «genügende» Übereinstimmung aus dem Wissen heraus, dass Wissen sich eh nicht festhalten lässt, es geht also primär in solchen Momenten darum, die Bahnungen der Konstruktion und Rekonstruktion des Wissens in dem Sinne zu beeinflussen, dass das nachher von anderen Menschen (re-)produzierte Wissen sich innerhalb des erwarteten Variationsspielraums bewegt.

Dennoch muss manchmal solche Entscheide treffen, die zum Verlust des Know Hows führen. Das Problem der psychisch behinderten Asylsuchenden ist darum so interessant, weil sich hier zwei Fragen miteinander vermischen, die sonst bisher getrennt behandelt werden. Zum einen die Frage der psychischen Behinderung und der mit ihr einhergehenden Einschränkung der autonomen, selbstgesteuerten Bewegung in sozialen Handlungsräumen und zum anderen die Frage des Zusammenhangs zwischen dem Flüchtlingsproblem weltweit und dem Prozess der Globalisierung.

Es gibt darauf gewiss keine einfache Anworten, aber ein Finanzierungsstreit zwischen zwei sozialstaatlichen Dispositiven macht die Sache nicht nur nicht besser, sondern verweist nur eben auch auf die Hilflosigkeit angesichts des Problems.

 

Nach so viel schwierigen Dingen noch eine erfreuliche Meldung.

Auf der gleichen Seite 13 des Tagesanzeigers mal eine Meldung über ein Behindertwerk, so wie man sich das wünscht, eine Erfolgsstory der süssen Art:

«Schokolade läuft besser als Metall.

Das Behindertenwerk St. Jakob macht mit eigeneer Tafelschokoldage Furore.

Zürich. – Das Behindertenwerk hat während des laufenden Jahres in wachstumsorientierte Bereiche investiert, um eine eine höhere Wertschöpfung zu erreichen und mehr Arbeitsplätze für Behinderte zu schaffen. Der soziale Gewerbetrieb erwirtschaftete heute bereits über 50 Prozenht des Betreibsertrages mit den Bereichen Bäckerei, Konditorei sowie mit dem eigenen Café. Deshalb entstand die erste St. Jakobs-Confiserie, die ein Sortiment von hausgemachten Tafelschokoladen anbietet. An stelle des stagnierenden Küchenbaugeschäfts wurde zudem die Bäckerei-Konditorei-Produktion stark erweitert; damit reagierte der Betrieb auf die zunehmende Catering-Nachfrage.

In der Elektronikabteilung, in der elektronische Messgeräte und Elektrogeräte montiert und in Stand gestellt werden und die sich erfolgreich entwickelt, arbeiten heute 30 Behinderte. Das sind doppelt so viele wie vor einem har. Die maschinenintensive Metallbearbeitung hingegen hat das Behindertenwerk an eine partnerinstitution ausgelagert.

Das Behindertenwerk bietet 320 Arbeitsplätze für Menschen mit einer Behinderung. Es umfasst die Tätigkeitsbereiche elektronik/Elektro, Schreinerei, Möbelerenovation, Stuhlflechten, Ausrüsten, Bäckerei, Konditorei, Confiserie, Caterin, Café, Ladengeschäft mit Holzspielwaren-Accessoires, Weinbau, Garten,Reinigung sowie Unterhalts- und Lieferdienste. Diese elf Bereiche erwirtschaften einen Betriebsertrag von rund acht Millionen Franken».

Die Homepage: «www.st-jakob.ch» zeigt denn auch einen durch und durch modernen Betrieb, der sich in nichts von irgendeinem anderen Unternehmen unterscheidet. Ist das also die Lösung, Erfolg, soweit das Auge reicht. Vollständige Übernahme des ökonomischen Sprachspiels, wie «höhere Wertschöpfung», «auslagerung», «Reagieren auf zunehmende Catering-Nachfrage». Irgendwann wird eine Evaluation gemacht werden, vermutlich wird man dann feststellen, dass durch den so genannten «zweiten Arbeitsmarkt» Stellen im so genannten «ersten Arbeitsmarkt» zerstört worden sind, darunter werden sich auch Stellen befinden, die von Menschen mit Behinderungen eingenommen worden sind. Man wird ihnen dann vielleicht sagen können, wo sie jetzt hingehören.

Blick, 16. November 2004, S. 30 Bllick-plus CLICK:  «SMALL TALK»

Edith Hunkeler gibt dem Blick ein Interview über ihre Computerverwendung und ihren  Handygebrauch. Frau Hunkeler benötigt den Computer, um ihre E-Mail-Korrespondenz zu erledigen, obwohl ihr Computer nicht besonders zusagen. Im Internet surft sie nur gezielt.

In ihrer Freizeit fotografiert sie viel und bearbeitet die Bilder anschliessend am PC.

Das Handy ist für sie wichtig, weil sie so, wo immer sie auf der Welt gerade auch ist, Kontakt mit ihren Liebsten aufnehmen kann. Sie verwendet ein ganz altes Handy einer bekannten Marke.

Hier ist nun die Behindertensportlerin ganz in den Kreis des Glamours aufgerückt. Sie wird interviewt, weil es für die Zeitung gut ist, etwas von ihr zu bringen, das Interview steht neben einem Artikel über «Jump&Runs»-Spiele für Kinder auf dem Bildschirm mit dem Titel «Hüpfende Helden fürs Kinderzimmer» auf der gegenüber liegenden Seite.

Niemand wollte damit irgend etwas mitteilen, davon gehe ich aus.