Edith Hunkeler gewann den Marathon im Rollstuhlfahren: 1.53.27. Sie war mit dem Rennen fertig und wohl auch schon fertig geduscht als Frau Metzler sich noch immer keuchend über den Asphalt schleppte, dennoch chapeau auch an die Altpolitikerin, nicht alle können so was.
In 20minuten wird schlagzeilenmässig der Rebirth der Weltrekordhalterin Paula Radcliffe, die – wer erinnert sich noch? – im Athen so tragisch in der Hitze untergegangen war, gefeiert. Sie gewann in einer Zeit von 2.23.10 in einer dramatischen Sprintentscheidung mit vier Sekunden Vorsprung. Bei den Männern siegte Hendrik Ramaala, ein Südafrikaner in einer Zeit von 2.09.28. Frau Radcliffe gewinnt 140 000 $.
Frau Hunkeler wird im Artikel nicht erwähnt.
Die NZZ erwähnt Frau Hunkeler in der Resultatübersicht. Die Rollstühle stehen in der Resultatübersicht nach Männern und Frauen an der letzten Stelle.
Im redaktionellen Artikel der Sportseiten steht auf Seite 39 die Schlagzeile: «Die zäheste Frau der Welt. Paula Radcliffe revanchiert sich in New York für Athen». Hier wird der Gewinn mit 100 000$ und einem Kleinwagen angegeben. Der Artikel ist mit einem grossen Farbbild illustriert.
Interessant ist hier, dass der Frauenlauf als Geschichte so prominent dargestellt wird. Unter journalistischen Geesichtspunkten ist eben der Frauenlauf die Story, weil es hier eine knappe Siegerin in einer dramatischen Revanche elf Wochen nach den olympischen Spielen gibt.
Die Rollstühle zählen nicht wirklich. Wenn man davon ausgeht, dass auch das Radio in seiner Berichterstattung Frau Mettler gleich viel Zeit einräumt wie Frau Hunkeler, einfach die Erwähnung des Resultates, dann sieht man die Bedeutung des Behindertensportes als einer jener Pflichtstoffe, die ab und zu der politischen Korrektheit willen erwähnt werden müssen.
Man kann sich kaum vorstellen, dass der Sieg einer Schweizerin am New York Marathon den Redaktionen nicht ein Interview und ein Bild wert gewesen wäre, wenn dieser in einer «richtigen» Sparte erfolgt wäre.
Also wird Frau Hunkeler wieder auf den Klatschseiten der Glückspost und der Schweizer Illustrierten über ihre sportllichen Höchstleistungen berichten dürfen. Als Spitzensportlerin ist sie (noch) nicht wirklich ernst genommen.
Ist es das, was die VertreterInnen der Behindertenbewegung verlangen, die «normale» Berichterstattung über die sportlichen Leistungen der Behinderten?
Aber was sind nun «normale» Sprtarten?
Die Sportseiten der Zeitungen berichten beispielsweise auch nicht über die Weltmeisterschaften im Baumstämme zersägen, um Traktorfahren oder im Wettpflügen. Alles Anlässe, die es gibt und die com grano salis nicht weniger «sportlich» sind als die Rennen der Formel 1.
Gehört also der Behindertensport ganz einfach nur in jene Kategorie der Randsportarten wie Seilziehen, die zwar «sportlich» wertvoll aber für das grosse Publikum nicht von Interesse sind?
Ist damit also der Versuch, den Behindertensport in die vorderen Ränge der Berichterstattung zu bringen nicht ein Übermass an politischer Korrektheit, weil er ganz einfach eben so spannend ist wie Stockschiessen oder Rodeln?
Wäre damit die Normalität, die Gleichbehandlung erreicht?
Man sieht aufgrund solcher Überlegungen sehr wohl, wie hilflos die Debatte um die Gleichbehandlung ist. Es kann sie nicht geben und es wird sie nicht geben, weil nie jemand gleichbehandelt werden wird.
Es ist gewiss kein Zufall, dass die Formel 1 im TV so prominent ist. Man muss sich dafür nur die finanziellen Interessen, die im Hintergrund dieser Anlässse eine Rolle spielen ansehen.
Nicht zufällig wurde dieses Jahr zum ersten Mal ein Formel 1 Rennen in China ausgetragen.
China, das am Beginn der Motorisierung steht.
Die Atmosphäre lässt grüssen.
Wer sind schon die Produzenten von Rollstühlen gegenüber den Produzenten von Autos?
Beide produzieren sie Fahrzeuge.
Mit sportlichem Wettkampf hat dies alles eher wenig zu tun.
Das gleich gilt selbstverständlich für den Radsport. Die Profigruppe Phonak – von einem der weltweit grössten Hersteller von Hörgeräten – gerät nicht aus den Dopingschlagzeilen. Hier wird nicht Behindertensport getrieben. Hier sponsort ein Unternehmen, das von der Existenz der Hörbehinderungen lebt, und gutes Geld für offenbar gute Produkte verdient, eine Profitruppe, weil die damit ausgegebenen Millionen, den Namen der Marke Phonak weltweit viel schneller und kostengünstiger bekannt macht, als eine vergleichbare Anzeigenkampagne. Da spielen selbst ein paar schmutzig-medizinische Manipulationen mit der Gesundheit der Fahrer keine wirkliche Rolle, weil auch dann der Name der Marke in der Schlagzeile ist.
Hier ist das, was man einst einen sportlichen Wettkampf nannte, absolut sekundär.
Im Gegenteil bisher haben die Dogingskandale Phonak nicht geschadet, sondern mindestens kurzfristig deren Bekanntsheitsgrad noch erhöht.
Hätte die Firma gleichviel Geld weltweit nur in den Radsport für JuniorInnen oder für Frauen investiert, dann hätte aus dieser Investition keinerlei Nutzen für die Firme resultiert.
Das Publikum will bestimmte Dinge sehen und bestimmte Dinge nicht.
Es ist fraglich, ob die Wettläufe beinamputierter Männer, selbst wenn sie von den grössten Konzernen gesponsort würden, im TV vom Publikum überhaupt angesehen werden wollten.
Darüber müsste man sich vielleicht auch unterhalten.
Was denn die Frage der Sichtbarkeit und Unsichtbarkeit von Behinderung ausmacht.
Es besteht neben der gesellschaftlich hergestellten Sichtbarkeit auch eine gesellschaftlich hergestellte Unsichtbarkeit von Behinderung.
Die gesellschaftliche Normalität ist nach solchen Kriterien konstruiert.
Die Forderung nach einer Gleichbehandlung greift vermutlich epistemologisch notwendigerweise zu kurz, wenn mit der Gleichbehandlung nicht eben auch die grundlegende Veränderung eben dieser Normalität gemeint ist.
Das wäre aber nur möglich durch das siegreiche Führen eines politischen Kampfes jener Kräfte, die die Behinderung «enthindnern» wollen.