Der Artikel nimmt fast eine Viertelseite ein. Ein farbiges Bild zeigt Certina-Geschäftsführer Adrian Bosshard bei der Übergabe der «DS Donna» an seine «Botschafterin» Edith Hunkeler. Er steht, sie stitzt, von Frau Hunkeler sieht man den Kopf, die nach oben gerichteten Augen und ihre linke Hand, vom Direktot sieht man ein Halbkörperbild, dessen Konturen durch den linken Bildrand beschnitten wird. Er steht lilnks von ihr, sie sitzt rechts von ihm, aus der Perspektive des Bildbetrachters. In der Mitte das Plakat mit dem Firmennahmen «Certina».
Im Artikel erfährt man, dass die beiden sich schon lange kennen, noch aus der Zeit als Frau Hunkeler noch Fussgängerin war. Das war 1993, sie traffen sich zwei Jahre später wieder, als Frau Hunkeler nach ihrem Autounfall gelähmt im Rollstuhl sass und von ihren Zielen als Rollstuhlsportlerin erzählte.
Frau Hunkeler tritt als «Certina-Botschafterin» in einen erlauchten Kreis von SpitzensportlerInnen ein, einer ihrer Vorgänger war Muhammad Ali, der weltbeste Boxer, der in den siebziger Jahren einen solchen Werbevertrag mit der Uhrenmarke unterzeichnet hatte.
Frau Hunkeler bereitetet sich nach ihren beiden Silbermedaillen über 5000 und 1500 Meter Rollstuhl an den Paraolympics in Athen nun intensiv auf den Boston-Marathon vom 7. November 2004 vor.
Der Certina-Direktor wird am Ende des Artikels mit dem Satz zitiert: «Schade nur, sagte Bosshard, «dass die Leute bei ihr die Uhr am Handgelenk kaum beachten, weil alle nur in ihre blauen Augen blicken».
Eine schöne Glamourgeschichte, eine schweizerische Uhrenmarke lässt für sich werben mit einer erfolgreichen und schönen behinderten Spitzensportlerin. Hier wird das Sympathiepotenzial gewissermassen optimiert, indem in der Person der Werberin, sowohl Sexappeal als auch sportliche Höchstleistungen (die nur möglich sind bei hohen Ausprägungen von dafür wichtigen Sekundärtugenden wie Disziplin, körperliche Härte, klare Zielsetzungen, hohe Motivation, usw.) und Handicap eine gelungene Symbiose finden.
Edith Hunkeler verkörpert diese Symbiose und sie nutzt ihr lebensgeschichtsliches window of opportunity, um sich damit zu vermarkten, wie jede andere Spzitensportlerin auch. Es sind in der Regel nur wenige Jahre, die dafür zur Verfügung stehen.
Frau Hunkeler ist in der Behindertenbewegung, die um Anerkennung und Legitimation streitet, umstritten. In einem Zeitungsinterview, dass sie gegeben hat, habe ich den Satz gelesen: «Den Neid musst Du Dir verdienen».
Die Schweiz ist eine ausgeprägte Neidkultur. Anstatt, dass wir uns auf uns selbst und unsere eigenen Ziele zu orientieren, neigen wir dazu, neidisch zu schauen, was ein anderer macht und neiden ihm den Erfolg. Das Problem der Gleichheit verkommt zur fantasmierten Gleichmacherei.
In der gleichen Zeitung auf Seite 21 unter der Rubrik «Zentralschweiz / Luzern», steht die Schlagzeile «Betreten absolutes Neuland».
Die Gemeinde Emmen hat die Stelle eines Sozialinspektors eingerichtet, der dem möglichen Missbrauch von Sozialhilfebezügern nachgehen soll. Und ich erinnere mich, dass ich in, ich weiss nicht mehr welcher Zeitung, von einem Fall eines Sozialhilfebezügers gelesen habe, der Leitstungen kassiert hat, obwohl er einen Lottogewinn von mehreren hunderttausend Franken gemacht hatte, diesen aber den Behörden verschwiegen hatte. Wer wüsste nicht von solchen Geschichten, vor allem von selchen, die einem erzählte werden, von jemandem, der von jemandem gehört habe, dass ...
Soziale Vorurteile bauen sich so auf, das ist aus der Sozialforschung wohlbekannt und sie brauchen solche Geschichten, um wachsen zu können.
Im Artikel wird gesagt, der missbräuchliche Bezug von Sozialleistungen müsse verringert und verhindert werden, denn das sei ein Missbrauch an der Gesellschaft schlechthin.
Interessant an dieser Argumentation ist die Selbstverständlichkeit der Gleichsetzung von Gesellschaft mit dem Staat und die ebenso klare Scheidung von Individuum und Gesellschaft. Und ebenso interessant und ein Hinweis auf die oben erwähnte Neidkultur ist der Glaube daran, dass betrogen wird.
Was man sich selbst zutraut, dass traut man eben dem Anderen noch mehr zu, die berühmte Geschichte von, ahc wie hiess er doch schon wieder, et ist irgendwie wichtig geworden für unsere Kultur, also wie auch immer, jedenfalls sagte er, man solle sich lieber mit dem Balken im eigenen Auge befassen als mit dem Splitter im Auge des Nachbarn.
Aber bei dieser Argumentation, die den Staat mit der Gesellschaft gleichsetzt, die in unserer Kultur eine häufige geworden ist, geht viel verloren.
Es geht verloren das Wissen, dass Staatlichkeit die Folge eines gesellschaftlichen Zustandes ist, der sich durch ein grosses Ausmass an struktureller Spannung auszeichnet und eine sehr ungleiche Machtverteilung kennt, die sich vor allem in der schrägen Verteilung der Einkommen zeigt.
Es geht ebenfalls verloren, wie mit der Entstehung von Staatlichkeit – was in sich ein langwieriger Prozerss gewesen ist – in den sich modernisierenden Gesellschaften Europas sich auch Verinnerlichungsprozesse und eine Distanzierung von Emotionalität sich abspielen, wie Norbert Elias gezeigt hat, die zu dem erst führen, was wir «Individualität» nennen.
Und es geht verloren, dass erst auf dem Hintergrund einer wahrnehmbaren und wahrgenommenen Individualität die Freiheit des Menschen als eine individuelle Freiheit gedacht werden kann und sich so auch im Gesetz auszudrücken vermag, was schliesslich in der Formulierung der allgemeinen Menschenrechte sich äussert, deren wohl entscheidenste Feststellung ist, dass alle Menschen frei geboren sind, dass also Menschen niemals anderer Menschen als Eigentum dienen können. Auf solche naturrechtliche Begründung, die einem neueren Sprachgebrauch zufolge auch als «protonormalistisch» verstanden werden kann, lässt sich nicht verzichten; sie bildet so etwas wie eine Nulllinie des menschlichen Umgangs der Menschen mit sich selbst.
Erst dieser Umstand individueller Freiheit macht es möglich, die Vertraglichkeit von Abmachungen über den Verkauf von Lebenszeit in der Institution der Lohnarbeit als allgemeine Form von Arbeit überhaupt in der Gesellschaft zu institutionalisieren. Und erst auf solchem Hintergrund entsteht aus den Spannungen dessen, was das 19. Jahrhundert die «soziale Frage» genannt hat, der moderne Sozialstaat.
Dieser Sozialstaat macht gewisse Anleihen an Erfahrungen, die bis weit ins hohe Mittelalter zurückreichen, wenn man etwa an die Almosenlehre des Heiligen Thomas von Aquin denkt, der die Soziallehre der katholischen Kirche während Jahrhunderten gepärgt und beeinflusst hat.
Es muss ungeheuer viel vergessen werden, bis jemand einen Satz schreiben kann:
«Wir wollen den missbäulichen Bezug von Sozialleistungen verringern und verhindern». Denn das sei ein Missbrauch an der Gesellschaft schlechthin.
Maturana und Varela haben einmal gesagt, Traditionen seien immer auch Weisen, etwas zu vergessen. Traditionen dienen der Orientierung, damit also Orientierung stattfinden kann, müssen Erinnerungen, die als Informationen, die Orientierung verstören könnten, vergessen werden. Die Folge des systematischen Vergessens, die im Rahmen gesellschaftlich hergestellter Unbewusstheit erfolgt, ist sellbstverständlich die ewige Wiederkehr des Verdrängten im sogenannten Missbrauch. Was als Missbrauch sich zeigt, ist die unmittelbare Folge eines Verteilungskampfes um knappe Mittel, also um das, was Karl Marx einmal als «Aneignung des gesellschaftlichen Reichtums» genannt hat und während der Reichtumg der Gesellschaft kolletiv erzeugt wird, erfolgt seine Aneignung privat, das soll nicht mehr verstanden werden können.
Dem Artikel ist eine Karrikatur beigefügt, die die Untertitelung trägt: «Überraschung, Überraschung; Hausbesuch des Sozialinspektors». Die Karrikatur zeigt einen Mann und eine Frau im Abendanzug. Sie wollen offenbar gerade ausgehen und sagen dem Sozialinspektor, der an der Tür geläutet hat: «Sie hätten sich früher anmelden sollen. Jetzt wartet unser Taxi».
Der Text ist doppelbödig. Denn zurecht weist der zum Ausgehen bereite Mann darauf hin, dass es teuer ist, wenn man ein Taxi warten lässt. Er geht also mit seinem Geld – sogar wenn es welches der Sozialhilfe wäre – verantwortungsvoll um. Ein anderer Subtext ist der, dass Sozialhilfeempfänger, nicht im Abendkleid und mit dem Taxi in den Ausgang gehen sollten. Dahinter stehen auch Vorstellungen, wie die sogenannte «Armut» sozial zu inszenieren ist. Georg Simmel kommt einem da in den Sinn, das Kapitel über den Armen in seiner Soziologe. Arm ist, wer Armenhilfe empfängt.
Neben der Karrikatur ist ein Foto von Rolf Born, dem Sozialinspektor der Gemeinde Emmen, der mit dem Satz zitiert wird: «Damit stärken wir auch das Vertrauen in das soziale System».
Ein Schuft ist, wer da an den Satz von Wladimir Ulianow, auch genannt Lenin, denkt: «Vertrauen ist gut, Kontrolle ist besser».